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Anemone

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Das düstere und zugleich rätselhafte Familiendrama ANEMONE erzählt von den Brüdern Ray (Daniel Day-Lewis) und Jem (Sean Bean) Stoker, deren Kindheit von Gewalt, Strenge und religiösem Fanatismus geprägt war. Während Ray ein Leben im selbst gewählten Exil in einer einsamen Waldhütte führt, sucht Jem Halt in tiefem Glauben, seiner Partnerin Nessa (Samantha Morton) und dem Ziehsohn Brian (Samuel Bottomley). Als eine familiäre Krise die Brüder nach zwanzig Jahren der Stille erneut zusammenführt, sind sie gezwungen, sich schonungslos den Dämonen ihrer Vergangenheit zu stellen: Verdrängte Geheimnisse kommen ans Licht, alte Wunden reißen auf, und die düstere Familiengeschichte entfaltet einen Sog, dem keiner von beiden sich entziehen kann.
Mit ANEMONE präsentiert Ronan Day-Lewis ein eindrucksvolles Regiedebüt, das Drehbuch verfasste er gemeinsam mit seinem Vater Daniel Day-Lewis. Für die Hauptrolle kehrt der dreifache Oscar®-Preisträger Daniel Day-Lewis erstmals nach acht Jahren auf die Leinwand zurück. Ronan Day-Lewis verbindet bildgewaltige Welten, kraftvolle Symbolik und eine unheilvolle Klanglandschaft zu einem intensiv aufgeladenen Drama über Schuld, Vergebung und die zerstörerische Macht des Schweigens. Getragen von einem herausragenden Ensemble entfaltet das Drama eine emotionale Wucht, die das Publikum weit über den Kinosaal hinaus begleitet.

„Die Explosion war so laut, dass man sie nicht hören konnte.“ So beschreibt der ehemalige Soldat Ray Stoker (Daniel Day-Lewis) den Moment, der sein Leben aus dem Gleichgewicht geworfen hat. Seit dieser schrecklichen Erfahrung während des Nordirlandkonflikts lebt Ray in einer abgelegenen Waldhütte, während sein Bruder Jem (Sean Bean) sich um Rays Ehefrau Nessa (Samantha Morton) und den Sohn Brian (Samuel Bottomley) kümmert. Als der Schüler der gewalttätigen Vergangenheit seines Vaters nacheifert, will Jem seinen Bruder überreden, endlich aus dem selbstgewählten Exil zurückzukehren. Doch aus den alten Wunden quillt immer noch die Vergangenheit und der Schmerz.

Ein abrupter Tritt ins Leere

Es ist ein vertrautes Paradoxon des Kinos: Auf der Leinwand muss der größte Lärm irgendwann implodieren und einer Stille weichen, die den Lärm noch in sich trägt. „Anemone“ von Ronan Day-Lewis ist ein Film, der unentwegt diesen Tritt in die Leere vollführt, eine Sammlung zusammenbrechender Crescendi und kollabierender Eskalationen.

In der entlegenen Hütte treffen zwei Leben aufeinander. Zwei Entscheidungen und zwei Pfade, aber tausend Zweifel, Vorwürfe und Ängste. Zwischen den fremdgewordenen Brüdern liegt ein Ozean des Schweigens. Vieles wird dabei über die Körper verhandelt. Die beiden tanzen und ringen miteinander. Sie behandeln einander brüderlich, mit liebevoller Gewalt und kompetitiver Intimität. Das Verdrängte kehrt in vielen Formen zurück.

Stille vs. ein Schwall aus Worten

Der Film „Anemone“ existiert in zwei Modi, die nie ganz zueinander finden. Einerseits verschleiert er, öffnet Ellipsen und lässt lange Stille zwischen den Figuren walten. Die Inszenierung sucht Bilder für innere Zustände. Einmal joggen Jem und Ray am Strand entlang; irgendwann aber lässt der Einzelkämpfer seinen solideren Bruder hinter sich. Ein einfaches Bild: Ray ist ambitionierter, verbissener; er gibt nicht auf; vielleicht ist er aber auch nur auf der Flucht und hat eine Verantwortung, vor der er davonläuft. Ein andermal tanzen die beiden in der Hütte zu Rockmusik, während sich die Kamera immer weiter wegbewegt. Sie werden zunehmend kleiner und unbedeutender gegenüber dem Wald und der Natur, die jetzt das Bild füllen. Es gibt Größeres als ihre Streitigkeiten.

Andererseits hat der Film auch immer wieder lange, geradezu ausufernde Szenen, in denen ausbuchstabiert wird, was zuvor nur geahnt und angedeutet wurde. Über Drehbuchseiten hinweg häufen sich Bekenntnisse, Selbstoffenbarungen und die Rückkehr zu traumatischen Urszenen: Missbrauchserfahrungen durch einen Priester, der Mord an einem mehr oder weniger Unschuldigen. Wenn die Figuren schließlich psychologisch nackt vor dem Zuschauer stehen, wirkt das graduelle Entblättern geradezu albern. So als wäre alles Bisherige kein Prozess, sondern lediglich eine mutwillige Verzögerung gewesen. Als müssten der Film oder seine Figuren Zeit schinden.

Das Wunder als Spektakel

Jem und Ray sind von einer Liebe zum Vulgären und Profanen geprägt. Die Brüder fluchen ununterbrochen; ein langer Monolog widmet sich intensiv dem Fäkalen. Diese allzu menschlichen und damit allzu irdischen Momente werden gegen das Göttliche ausgespielt. Ray hat seinen Glauben durch die Schrecken des Krieges verloren; Jems Religiosität ist in Sinnsprüchen und Alltagsroutinen erstarrt. Gott wird in der Filmsprache durch eine Drohnen-Perspektive verkörpert. Eine Macht blickt aus höchsten Höhen auf die Figuren herab. Wenn die Dramaturgie nicht weiterkommt, flüchtet sich die Inszenierung in allzu große Gesten der Transzendenz. Eine spirituell eingefärbte Religiosität, näher an Cecil B. DeMille, Alejandro González Iñárritu oder sogar Mel Gibson als an Robert Bresson, Carl Theodor Dreyer oder Andrej Tarkowski. Das Wunder als schieres Spektakel und schriller Budenzauber.

Der Stil des Films hat etwas erdrückend Prosaisches und folgt fast einer mathematischen Logik. Wenn Rays Einsamkeit ins Bild gesetzt wird, hört man den Song „Solitude“ von Black Sabbath. Schwelgt er hingegen in Erinnerungen an eine Jugendliebe, läuft „Teenage Lust“ der Gruppe „The Jesus and Mary Chain“. Jede Formentscheidung wird überdeutlich durch Handlung und Dialog erklärt. Die Figuren sind zentral im Bildrahmen platziert, die Ran- und Wegfahrten der Kamera suggerieren einen inneren Prozess.

Das Ergebnis erinnert an generative KI. Die ästhetische Strategie, Musik und Intensität bis ins Unerträgliche zu treiben, dann aber plötzlich in eine schreiende Stille hineinzuschneiden, verbraucht sich auf Dauer. Vor allem aber wird sie durch einen der späten Monologe von Ray ausdekliniert. Was ist Poesie ohne Transfer und Verformung, ohne Enigma und Mythos? Das Spektakel überwindet jedes Gefühl für eine höhere Macht.

Ein schwieriges Vater-Sohn-Verhältnis

Unabhängig davon drängt sich die Frage nach der autobiografischen Dimension von „Anemone“ auf. Wenn der Sohn eines berühmten Schauspielers diesen in einem Film über eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung besetzt, dann legt das eine Parallele nahe. Zumal Day-Lewis für die Öffentlichkeit so fern und abwesend erscheint wie Ray für Brian.

Es entsteht ein kurioses Nebeneinander. Der überlebensgroße Darsteller, dessen Schauspiel immer ein Spezialeffekt ist und selbst die verschwenderische Weitläufigkeit eines Paul Thomas Anderson aufbricht. Als Day-Lewis erstmals auf der Leinwand erscheint, wird er als mythische Figur inszeniert: sein Gesicht verborgen, der Körper ein Schattenriss. Dem steht ein Film gegenüber, der sich nach derselben Größe sehnt und deshalb verzweifelt ein Kartenhaus aus großen Affekten und „Kino-Momenten“ errichtet.

Als bildender Künstler malt Ronan Day-Lewis Monstertrucks, Ballons und Frauen in Football-Jerseys. Wer eines seiner Gemälde gesehen hat, etwa „Words don’t come easy“, erkennt seinen Stil im Vorspann von „Anemone“ wieder. In einem Katalogtext der Megan-Mulrooney-Galerie steht, dass seine Arbeit „von der Ästhetik der Massenkultur und ihrem Treibgut“ heimgesucht werde. Tatsächlich wirkt auch „Anemone“ wie ein Katalog der weniger aufregenden Impulse des US-amerikanischen Indiewood-Kinos. Als junger Künstler arbeitet man oft innerhalb bestehender Parameter; nur eben selten mit derart großen Werkzeugen.

Veröffentlicht auf filmdienst.deAnemoneVon: Lucas Barwenczik (6.11.2025)
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