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Filmkritik
„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist der letzte Film von Wolfgang Becker. Der Filmemacher verstarb im Dezember 2024, kurz nachdem er die Dreharbeiten abgeschlossen hatte. Die erste Rohschnittfassung des Films hat Becker noch gesehen, die restlichen Arbeiten übernahm sein Kollege Achim vom Borries, der angesichts der schweren Erkrankung von Becker schon früh in das Projekt eingebunden war. „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ sieht so aus und fühlt sich so an wie ein typischer Wolfgang-Becker-Film: mit einem präzise ausgearbeiteten Drehbuch, einer warmherzigen Inszenierung über das Leben der sogenannten einfachen Leute, einem spielfreudigen Ensemble, kritischen Seitenhiebe auf soziale Fehlentwicklungen und einem feinen Sinn für Humor und menschliche Unzulänglichkeiten.
Die Sache mit dem Bolzen
Die Handlung spielt im Jahre 2019, in dem sich der Mauerfall zum 30. Mal jährte. Aus diesem Anlass bereitet das „Fakt“-Magazin des Journalisten Alexander Landmann (Leon Ullrich) eine Sonderausgabe vor. Bei Recherchen ist Landmann auf den Besitzer der Berliner Videothek „The Last Tycoon“ gestoßen, Micha Hartung (Charly Hübner), der kurz vor der Pleite steht. Es geht das Gerücht, dass Micha im Juni 1984 als stellvertretender Stellwerksmeister einen Bolzen aus einer Weiche am Bahnhof Friedrichstraße geschlagen habe, weshalb eine Ost-Berliner S-Bahn mit 127 DDR-Bürger:innen versehentlich in den Westen gelangte.
Landmann wittert einen Coup über die größte Massenflucht aus der DDR und will Micha zu den Einzelheiten interviewen. Weil der Videothekar hohe Schulden hat und dringend Geld braucht, erklärt er sich widerstrebend dazu bereit. In dem Gespräch stilisiert er sich dann zum Widerständler und Regimegegner, der für seine „Befreiungstat“ Monate hinter Gittern verbrachte. Der Journalist schmückt diese Übertreibungen mit effekthascherischen Details aus. Im Handumdrehen wird aus dem notorischen Verlierer ein Held, um den sich die Medien reißen und der von Angehörigen und Bekannten bewundert wird. Nach einem Auftritt in einer Talkshow lernt Micha auch noch die charmante Staatsanwältin Paula Kurz (Christiane Paul) kennen, die als Kind in der fehlgeleiteten S-Bahn saß und schon lange nach dem richtigen Partner sucht. Doch als Micha auch noch beim Festakt zum Mauerfalljubiläum im Bundestag reden soll, melden sich Neider wie der Bürgerrechtler Harald Wischnewsky (Thorsten Merten), die seine Geschichte anzweifeln.
Pointierte Dialoge und viel Wortwitz
Für sein schwungvolles Alterswerk versammelte Becker neben einigen Neuzugängen wie Charly Hübner und Leonie Benesch viele seiner Stammdarsteller wie Daniel Brühl, Jürgen Vogel und Christiane Paul. Mit großer Spielfreude erfüllt das Ensemble, allen voran Charly Hübner in der tragikomischen Paraderolle eines unfreiwilligen Hochstaplers, die Adaption des gleichnamigen Romans von Maxim Leo mit Leben und schlägt humoristische Funken aus der warmherzigen Kombination aus Satire und Romanze. Das Drehbuch von Wolfgang Becker und seinem Co-Autor Constantin Lieb bot mit pointierten Dialogen und viel Wortwitz dafür auch eine solide Grundlage.
Die absurd anmutende Story über die „Massenflucht“ knüpft an Beckers größten Kinohit „Goodbye, Lenin“ an, in der ein Sohn seiner Mutter nach dem Ende der DDR vorgaukelt, diese würde nach existieren. Schon früh wird in „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ klar, dass das Lügengebäude früher oder später zusammenbrechen wird – - Micha hatte die Irrfahrt des Zuges versehentlich ausgelöst und saß auch nur zwei Tage hinter Gittern. Doch der vermeintlich große Retter, den das Magazin schon als ostdeutschen Oskar Schindler feiert, schafft noch rechtzeitig die Kurve zur Läuterung.
Das Schöne an dem Abschiedswerk ist, dass es neben der boulevardesken Fabel und der leisen Romanze voller Einfälle ist, die auf ebenso elegante wie amüsante Weise gesellschaftskritische Denkanstöße geben. So setzt sich der Film in ironischer Manier mit Ritualen der deutschen Gedenkkultur auseinander oder spießt in bissigen Miniaturen Machenschaften der Stasi auf. Auch deutsch-deutsche Vorurteile und Empfindlichkeiten werden süffisant hinterfragt, etwa wenn der verbissene Archivar Holger Röslein (Dirk Martens) glaubt: „Ostdeutsche haben keine Heldentalent, die meisten sind zu bescheiden, zu ehrlich, zu naiv.“
Auswüchse der Medienindustrie
Besonders kritisch beleuchtet Becker die Auswüchse der Medienindustrie, wenn aus Versagern im Handumdrehen Helden gemacht oder die Wahrnehmung einer ganzen Gesellschaft manipuliert werden kann. Zudem wird die Unzuverlässigkeit der Geschichtsschreibung aufs Korn genommen, wenn Micha selbstkritisch einräumt: „Wir schaffen uns eine Wahrheit, die wir dann für wahr halten.“
Ein besonderes Lob verdient die Filmmusik von Lorenz Dangel, die eine große Bandbreite musikalischer Stimmungen entfaltet und im passenden Moment auch nicht vor pathetischen Tönen zurückschreckt. Als Cineast hat Becker auch etliche Anspielungen auf die Filmgeschichte eingebaut, was sich bei einem Videothekar als Protagonisten auch anbietet. Gleich zu Beginn rückt die Kamera ein Plakat von Stanley Kubricks „The Killing“ ins Bild. Später enthüllt Micha, dass Robert de Niro sein Lieblingsschauspieler sei. In der Videothek gibt es einen Aufsteller von Sophie Marceau, die ihn in seiner Fantasie sogar anspricht. Und als Micha im Zustand tiefer Verzweiflung zu lauter Musik durch seinen maroden Laden hüpft, klebt er Ausverkaufsetiketten auf die DVDs von Filmkunstklassiker wie „Das weiße Band“, „Stalker“ oder „Spur der Steine“.
