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Blinder Fleck

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Man sieht sie nicht, die Opfer von Ritueller Gewalt, obwohl sie seit vielen Jahren immer wieder von ihren Torturen ihrer Kindheit berichten. Man will das nicht hören, man will das nicht sehen, will es nicht glauben. Und die Täter sieht man erst recht nicht. Dabei wurde Kindesmissbrauch in sexualisierten Gewaltstrukturen mehrfach aufgedeckt und die Missbrauchsabbildungen, die zuhauf dabei entstehen, im Internet gefunden. Doch wie diese Aufnahmen entstehen, mit welchen immer wiederkehrenden Trainings- und Foltermethoden oder gar kultischen Ritualen voller verdrehter Ideologien Kinder regelrecht abgerichtet werden, um bei Zwangsprostitution und Sexorgien auf Knopfdruck zu funktionieren, das bleibt noch immer im Verborgenen. Und wenn Kinder gar von Kapuzenmännern mit Masken sprechen, heißt es, das hätten ihnen ihre Mütter eingeredet. Wir sehen nur die Folgen schwerster körperlicher wie psychischer Traumatisierung bis hin zur Aufspaltung der Identität zu Multiplen Persönlichkeiten, stellen aber zugleich die Erinnerung der Opfer als Ursache für ihre seelische Zersplitterung infrage. So lange Gesellschaft, Justiz und Medien wegschauen, schützt das die Täter, die weiterhin unbehelligt Kinder malträtieren können. Insofern ist „Blinder Fleck“ – ein nur von Spenden finanzierter Dokumentarfilm – ein Plädoyer für genaues Hinschauen und gegen vorschnelle Vorverurteilungen zahlreicher Opfer, falsche Angaben zu machen. Klar können sich Fehler in die Erinnerung einschleichen, aber das heißt noch lange nicht, dass nichts von all dem wahr ist.
In Gesprächen mit Betroffenen sowie Expertinnen und Experten, also Psychotherapeuten, Opferanwälten, Ermittlern und einem Gedächtnisforscher, wird von Ritueller Gewalt berichtet. Um jede Retraumatisierung zu vermeiden, zeigen die Bilder lediglich Situationen aus dem normalen Lebensalltag und nichts aus den benannten Parallelwelten. Die Autorin und Dokumentarfilmregisseurin Liz Wieskerstrauch – durch zahlreiche Filme bei ARD, ZDF und ARTE bekannt – hat bereits vor 25 Jahren erste Reportagen mit Opfern von Ritueller Gewalt gedreht und kürzlich auch einen Roman über eine Multiple Persönlichkeit „Lucys Diamonds“ geschrieben.
  • Veröffentlichung24.04.2025
  • Liz Wieskerstrauch
  • Deutschland (2025)
  • 81 Minuten
  • Dokumentarfilm
  • FSK 16

Es scheint oft leichter zu sein, sich bei schweren Verbrechen einen Einzeltäter vorzustellen als eine organisierte Gruppe. Besonders wenn es sich um extrem geächtete Handlungen wie etwa sexualisierte Gewalt an Minderjährigen oder Kindesmissbrauch im Säuglingsalter handelt. Dann entlastet das Bild eines psychisch gestörten oder bösartigen Individuums bei der Auseinandersetzung, weil es die Tat zu einer vermeintlichen Ausnahme macht. Dabei belegen Zahlen über Kinderporno-Ringe und Netzwerke von Pädophilen allzu oft das Gegenteil.

Ritualisierte Formen von Gewalt tauchen in den Nachrichten immer dann auf, wenn Ermittler bei Hausdurchsuchungen riesige Mengen an belastendem Bildmaterial finden. Opfer und Täter sowie die Hintergründe solcher Verbrechen bleiben meist im Dunkeln. Warum es so schwer ist, sich als Gesellschaft mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, hat viele Gründe, denen die mit dem Thema vertraute Dokumentaristin Liz Wieskerstrauch in „Blinder Fleck“ eindringlich nachgeht.

Rituale als Legitimationserzählungen

In Frankreich sorgte der Fall von Gisèle Pelicot auch deshalb für so viel Aufsehen, weil sie als Opfer die Scham für das Verbrechen an die Täter zurückgeben wollte. Sie bestand auf der Teilnahme der Öffentlichkeit am Gerichtsprozess und zeigte sich mit ihrer Geschichte in den Medien. Obwohl es sich in ihrem Fall um Sexualverbrechen zwischen Erwachsenen handelt, verdeutlicht der Aspekt der ritualisierten Gewalt gerade deren Brisanz. Denn es geht nicht um den Missbrauch in einem privaten Umfeld oder zwischen Einzelpersonen, sondern um organisierte Strukturen, bei denen die mediale Dokumentation der Verbrechen und ihre Verbreitung selbst Teil der Gewalt sind.

Kriminalbeamte, Traumatologen und Opferanwälte erklären in „Blinder Fleck“, wie man sich die Abläufe solcher Verbrechen vorstellen muss. Dabei bleiben sie stets wissenschaftlich und abstrakt genug, um Traumatisierungen oder eine unbeabsichtigte Komplizenschaft zu vermeiden. In den Interviews wird deutlich, dass Ideologien oder Rituale für die Täter einen entlastenden und zugleich ermächtigenden Charakter besitzen. So gibt es häufig (pseudo-)satanistische, sektenförmige oder religiöse Narrative, die es Pädokriminellen erlauben, sich gegenüber den Opfern als Gruppe mächtig und handlungsfähig zu fühlen. Sie schreiben sich eine Rolle wie in einem Theaterstück zu, das im Rahmen einer pervertierten Erzählung ihre Taten legitimiert und ihnen zugleich dabei hilft, sich von der eigenen Verantwortung als ethisches Subjekt zu lösen.

Die Betroffenen anhören

Neben den juristischen, kriminalistischen und psychologischen Perspektiven räumt der Film den mittlerweile erwachsenen Opfern und ihrer Sicht viel Raum ein. Für sie ist es von großer Wichtigkeit, angehört zu werden, da sie oft damit konfrontiert waren, dass ihre Erlebnisse andere überforderten oder aufgrund der Drastik sogar angezweifelt wurden. Auffällig ist, dass manche von sich nur in der „Wir“-Form sprechen. Das deutet darauf hin, welche Schutzfunktion eine psychische Spaltung für die Betroffenen haben kann. Gerade wenn der Missbrauch im sehr jungen Alter stattgefunden hat oder von Nahestehenden ausgeübt wurde, ist die innere Dissoziierung eine neurobiologisch angelegte Überlebensstrategie. Sie hilft, unerträgliche Erfahrungen auf verschiedene Persönlichkeitsteile aufzuteilen, sodass eine innere Distanz zum Geschehen entstehen kann.

Die zu Wort kommenden Betroffenen sind sich dessen selbst größtenteils bewusst, greifen beim Erzählen aber dennoch auf multiple Identitäten zurück, um sich zu entlasten. Der Film arbeitet passenderweise mit Split-Screen-Montagen, um die Tragweite des Schmerzes erfahrbar zu machen.

Das Problem der „falschen Erinnerung“

Eine wichtige Konsequenz aus der Erforschung traumatischer Dissoziation ist diese Inkohärenz von Erinnerungen, was für die juristische Aufarbeitung der Fälle ein großes Problem darstellt. Wenn Dissoziation für die Opfer ein notwendiger Überlebensmechanismus ist, was auf einer anderen Ebene aber die Qualität ihrer Berichte vor Gericht mindert, kommt das einer sekundären Form der Traumatisierung durch den Rechtsstaat und die Gesellschaft gleich.

Der Film räumt diesem Phänomen, das in der Psychologie unter dem Begriff „False Memory Syndrome“ kontrovers diskutiert wird, dramaturgisch klug viel Platz ein, um die Vorwürfe der Falschaussage von Opfern ernst zu nehmen, aber auch zu kontextualisieren. Bei extremer Gewalt, noch dazu im jungen Alter, kann es im Gedächtnis zu Verzerrungen kommen, bei denen die psychische Realität des Leidens und objektive Wirklichkeit verschwimmen können. Neurologen erklären allerdings auch, dass es eine Vielzahl unterschiedlicher Gedächtnisfunktionen gibt, die bei Traumatisierungen funktionale Störungen erleiden. Erinnerung ist, auch wenn das juristisch ein Problem darstellt, immer ein subjektiver, psychischer Konstruktionsprozess. Dennoch gibt es auch sehr genaue Abspeicherungen von einzelnen Informationen von strafrechtlicher Relevanz, die sich bei Traumatisierten häufig in der Genesungsphase zeigen, wenn der Körper die Abwehrmechanismen lockern kann.

„Blinder Fleck“ hat ein klares und äußerst notwendiges Anliegen. Man muss den Betroffenen zuhören und ihr Leiden ernst nehmen. Das gilt auf der individuellen Ebene in Familien, im juristischen Diskurs, aber auch in der gesellschaftlichen Debatte. Dazu braucht es ein objektives und bis zu einem gewissen Grad auch nüchternes Verständnis der Wirkungsweisen von organisierter Gewalt, um Vorfälle richtig einordnen und mit den Betroffenen sensibel umgehen zu können.

Ein mutiger Aufklärungsfilm

In diesem Sinne ist „Blinder Fleck“ ein wichtiger und mutiger Aufklärungsfilm, der deutlich macht, wie man sich mit schwerer Gewalt auseinandersetzen kann, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Film orchestriert wissenschaftliche Ergebnisse und gibt den Betroffenen Raum, sich als Experten zu zeigen und damit Würde und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen.

Formal orientiert sich der Film an den dokumentarischen Formen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, was bei der Schwere des Themas und dem Wunsch, ein möglichst großes Publikum zu erreichen, auch nachvollziehbar ist. Konkret bedeutet das viele „Talking Heads“, deren Beiträge gut in Relation gesetzt werden, aber auch viele Erlebensberichte von Betroffenen, die sehr berühren, sowie dazwischen einmontierte Alltagsbilder, deren Unschärfe und Banalität einen bewussten Kontrast zu den Verbrechen herstellt. Zudem kehrt die Animation eines immer größer werdenden „blinden Flecks“ als schwarzer vibrierender Sog auf weißem Grund wieder. Das ist ästhetisch zwar etwas sehr illustrativ, schmälert aber die Relevanz der Beiträge nicht.

Ein konkretes Plädoyer formuliert ein erfahrener Psychiater am Ende des Films: Unser Rechtssystem sollte traumapsychologisch informierte Reformen anstreben, damit das Unglaubliche nicht als unglaubwürdig disqualifiziert wird und alle Opfer wirklich Gehör finden.

Veröffentlicht auf filmdienst.deBlinder FleckVon: Silvia Bahl (25.4.2025)
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