Szene aus Der verlorene Zug
Filmplakat von Der verlorene Zug

Der verlorene Zug

100 min | Drama, Kriegsfilm, Historie | FSK 0
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Frühjahr 1945: Kurz vor dem Kriegsende strandet ein Deportationszug Richtung Theresienstadt mit über 2.000 jüdischen KZ-Gefangenen mitten auf einer Weide. Der Zugführer koppelt die Lok ab und flüchtet mit den anderen deutschen Soldaten vor der Roten Armee, die bereits das nahegelegene deutsche Dorf Tröbitz besetzt hat. Die ausgehungerten Menschen im Zug sind sich selbst überlassen und auf Hilfe aus dem Ort angewiesen. Als auch noch Typhus ausbricht, wird Tröbitz von der russischen Besatzung unter Quarantäne gestellt – niemand kommt rein, niemand raus. In dieser verzweifelten Situation voll von Misstrauen und Rachegelüsten erwächst eine unerwartete Freundschaft zwischen der jüdischen Niederländerin Simone (Hanna van Vliet), der jungen Deutschen Winnie (Anna Bachmann) und der russischen Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin).

Filmkritik

Noch immer erweist sich der Zweite Weltkrieg als fruchtbare Quelle für Filme aller Art. Allerdings wird es angesichts der Fülle immer schwieriger, unbekannte Stoffe zu finden, die noch nicht als Vorlage für eine oder mehrere filmische Adaptionen gedient haben. Die niederländische Regisseurin Saskia Diesing hat sich einer solchen Episode aus den letzten Kriegswochen zugewandt.

Im April 1945 rückten britische Truppen auf das Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Celle vor. Gleichsam in letzter Minute schickte das NS-Regime drei Züge mit zusammen 6800 jüdischen Häftlingen los, um sie ins Lager Theresienstadt in Nordböhmen zu verlegen. Es sind sogenannte Austauschjuden, die die Nazis festhielten, um sie gegen Deutsche, die im Ausland interniert waren, oder gegen Devisen zu tauschen. Während der erste Zug am 13. April von US-Truppen bei Magdeburg befreit wurde, traf der zweite Zug mit vorwiegend ungarischen Jüdinnen und Juden am 26. April in Theresienstadt ein.

Der dritte Zug, später „Der verlorene Zug“ genannt, blieb nach zweiwöchiger Irrfahrt mit 2400 Insassen vor einer gesprengten Brücke bei dem brandenburgischen Dorf Tröbitz stehen. Nachdem die deutschen Bewacher geflohen waren, befreiten sowjetische Soldaten am 23. April die KZ-Überlebenden, darunter 1500 Niederländer, aus dem Zug. Sie befahlen den Einwohnern, die ausgehungerten Ex-Häftlinge aufzunehmen und zu versorgen. Da im Zug eine Typhusepidemie ausgebrochen war, richtete das Militär ein Feldlazarett ein, rekrutierte deutsche Frauen und Mädchen als Krankenschwestern und stellte schließlich das Dorf unter Quarantäne. Erst nach acht Wochen gelang es, die Seuche zu stoppen. Insgesamt kamen während der Zugfahrt und in Tröbitz rund 550 Menschen durch Hunger und Krankheiten ums Leben, darunter auch etliche Pflegekräfte und Ärzte.

Als sich die Waggontüren öffnen

Der Spielfilm setzt ein, als sich die Waggontüren des Zuges in Tröbitz öffnen. Geradezu ungläubig schauen die Überlebenden auf saftige Wiesen, grüne Hügel und ein Dorf im Frühlingslicht. Die niederländische Jüdin Simone (Hanna van Vliet) stolpert sowjetischen Soldaten entgegen und bekundet mit Zeichensprache, dass sie Hunger hat. Doch die Soldaten, darunter die Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin), haben auch keine Essensvorräte mehr. Gemeinsam gehen sie und die Jüdinnen und Juden ins Dorf, um Nahrungsmittel zu beschlagnahmen. Als sich ihnen eine Metzgersfrau entgegenstellt, wird sie vor den Augen ihrer 17-jährigen Tochter Winnie (Anna Bachmann) vom Militär erschossen.

Die drei Frauen beobachten sich zunächst mit großem Misstrauen. Die 29-jährige Simone bringt ihren typhuskranken Mann Isaac (Bram Suijker) in Winnies Haus unter, um ihm das Lazarett zu ersparen, in dem katastrophale Bedingungen herrschen. Die 17-jährige Winnie, die noch immer der Nazi-Propaganda glaubt, bewohnt ein Zimmer mit Hakenkreuztapete und passt sich nur widerwillig an die neuen Machtverhältnisse an. Die 21-jährige Vera ist von Rachegedanken erfüllt und trägt stets ihr Präzisionsgewehr mit sich – jede Kerbe auf dem Gewehrkolben steht für einen erschossenen deutschen Soldaten. Als die Rotarmistin, die sich immer wieder unflätige Macho-Sprüche ihrer Kameraden anhören muss, Winnie vor einer Vergewaltigung durch zwei russische Soldaten bewahrt, beginnt das Eis zwischen den drei Frauen zu schmelzen. Der Pragmatismus setzt sich langsam, aber sicher gegen die Ideologie durch.

Die 1972 geborene Regisseurin Saskia Diesing lebte bis zu ihrem achten Lebensjahr in Deutschland, ehe sie in die Niederlande übersiedelte und später in Utrecht Film studierte. Zu den Ereignissen in Tröbitz hat sie eine persönliche Verbindung: Ihr Onkel Eddy Marcus überlebte den Transport als einjähriges Kind zusammen mit seinen beiden Brüdern und den Eltern. Von seinem Schicksal erfuhr sie allerdings erst bei seiner Beerdigung.

Elaboriertes feministisches Konzept

In ihrem dritten langen Kinofilm nach „Nena - Viel mehr geht nicht“ (2014) und „Dorst“ (2018) skizziert Diesing die Geschichte des dritten Zuges aus Bergen-Belsen kurz im Vorspann, wobei eine Frauenstimme aus dem Off anhand von animierten Landkarten zentrale Fakten beisteuert. Die Geschichte um die drei so unterschiedlichen jungen Frauen ist dagegen fiktiv. Sie passt jedoch in ein elaboriertes feministisches Konzept. Im Regiekommentar im Presseheft schreibt Diesing: „Neun von zehn Filmen über den Zweiten Weltkrieg werden von Männern erdacht, geschrieben, inszeniert und produziert.“ In der Regel würden sie auch Männer darstellen, ob als Held, Opfer oder Täter. „Der verlorene Zug“ jedoch handelt nicht nur von Frauen, sondern wurde auch zu einem großen Teil von Frauen produziert.

Dieser feminine Ansatz schlägt sich auch in einer anderen Sicht auf den Krieg nieder. In den kammerspielartigen Szenenfolgen, die oft in Innenräumen spielen, lenkt die Kamera von Aage Hollander den Blick oft auf Gesten und Blickwechsel zwischen den Frauen, die praktisch keine Fremdsprachen beherrschen und sich daher fast nur mit Zeichen verständigen können. Weibliche Solidarität erwacht dennoch und gedeiht.

Allerdings wirkt die Geschichte einer Freundschaft über alle Gräben hinweg letztlich einfach zu schön, um wahr zu sein. Zudem muss man bei einigen Details wie der Flucht einiger Jüdinnen und Juden aus der Quarantäne vorbei an russischen Kontrollposten Großzügigkeit walten lassen. Auch der historische Kontext kommt zu kurz, die wenigen Infos im Vorspann genügen nicht für ein vertieftes Verständnis. Und das Finale trägt seine Versöhnungsbotschaft allzu plakativ vor sich her. Solche Schwächen können die lobenswerten Darstellerleistungen leider nicht ausgleichen.

Erschienen auf filmdienst.deDer verlorene ZugVon: Reinhard Kleber (22.1.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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