



Vorstellungen
Filmkritik
Es beginnt mit einem wortlosen Ritual, einer Waschung. Man hört nur leises Plätschern. Die Worte und ihre Bedeutungen müssen noch warten. Die junge Frau, die sich in der ersten Sequenz von „Die jüngste Tochter“ in einem Pariser Vorort in aller Frühe auf den Tag vorbereitet und bald traditionell gewandet ihr Gebet murmelt, wird von der Kamera zunächst nur in Fragmenten erfasst: ihr offenes Haar, ihre muskulösen Unterarme und schließlich ihr Profil am offenen Fenster, wo das frühsommerliche Kreischen der Mauersegler die Luft erfüllt.
Als die französische Alltagssprache in den Film von Hafsia Herzi Einzug hält, füllen sich Leere und Erwartung dieses ersten szenischen Rahmens mit Begriffen. Eine „Intellektuelle“ sei Fatima (Nadia Melliti), sagt leicht spöttisch ein Mitschüler, nur weil sie sich auf den Unterricht vorbereitet hat. Das Abitur steht kurz bevor. Fatima nimmt es ernst und lernt. In ihrer muslimisch geprägten, aber liberalen Familie wird das Abiturzeugnis Tränen des Stolzes in die Augen der Mutter treiben. Fatima ist als jüngste von drei Töchtern „die Kleine“. „Eine kleine Prinzessin“ nennt sie ihr heimlicher fester Freund, der sie heiraten will und sich wünscht, sie möge sich femininer kleiden. Sie hält ihn mit der Begründung auf Abstand, dass sie lernen müsse.
Was die Mutter längst weiß
Es dauert aber auch nicht lange, bis ihr jemand das Wort „Lesbe“ entgegenschleudert, ausgerechnet ein Mitschüler, der seinerseits wegen seines modischen Stils und seines Habitus von den Jungs, mit denen Fatima abhängt, als „schwul“ gemobbt wird. In einer queeren Arthouse-Schmonzette würden Fatima und der schwule Mitschüler ziemlich beste Freunde werden; hier aber geschieht das Gegenteil. Fatima, die sich noch nicht eingestehen kann, dass sie auf Frauen steht und sich im inneren Konflikt mit sich selbst befindet, rastet aus, zerbricht seine Brille und prügelt auf ihn ein. Das Unsagbare wird sich noch in weiteren Schlüsselszenen nur unter Tränen zurückhalten lassen: als Fatima Rat bei einem Imam sucht, und als sie ihrer Mutter nicht anvertrauen kann, was diese längst weiß.
Von Frühling bis Frühling sind die fünf Kapitel der Adaption des gleichnamigen Romans von Fatima Daas überschrieben. Dass Fatima zunächst vor allem als eine Lernende gezeigt wird, untergräbt Erwartungen an (lesbische) Coming-of-Age-Filme, die nur ums Körperliche kreisen. Fatimas Geist ist aber genauso okkupiert von dem Begehren, zu verstehen, wie ihr Körper. Das Abi wird ein voller Erfolg, und sie beginnt ein Philosophiestudium.
„Ars amatoria“, lernbare Liebeskunst: davon erzählt die französische Schauspielerin und Regisseurin Hafsia Herzi zuallererst. Die von außen herangetragenen Konflikte wie die zwischen traditionellen Geschlechterrollen oder erlaubten und unerlaubten sexuellen Orientierungen und Praktiken werden nur am Rande manifest. Von einer erfahrenen Fremden, die sie auf einer Dating-App kennenlernt, lässt sich Fatima im Auto – und zwar nur in Worten – erklären, wie sie technisch vorgehen muss, um einer Frau Lust zu bereiten. Sie hört genau zu. Und wendet das neue Wissen an. Einmal steht Fatima nach einer erfüllten Nacht am Fenster, der Geliebten zugewandt, die wie die „Venus vor dem Spiegel“ im Gemälde des Malers Velázquez drapiert ist – nur dass statt des Spiegels Fatima in ihrem Blickfeld steht.
Von Kapitel zu Kapitel
Was Fatima reflektiert, sind weniger äußere Einschränkungen als vielmehr ihre inneren Konflikte. Dazu gehört auch die Erfahrung, dass Liebe wehtun kann, denn bald verliebt sie sich in Ji-Na (Park Ji-Min). Beide ziehen die Nacht dem Tag vor, denn nachts sei „alles schöner“, stellen sie fest, und doch wird es daraufhin erst einmal ziemlich finster. Denn die nächste Lektion, die Fatima lernen muss, heißt: Wie gehe ich mit einer schwer depressiven Partnerin um?
Paris gibt hier mit seinen spärlich beleuchteten nächtlichen Treppen, der glitzernden Seine, der Métro und den rauschhaften Clubs routiniert und zugleich unverbraucht die Kino-Liebesmetropole schlechthin. Diese Stadt ist in ihren besten Filmmomenten immer schon mehr als nur Kulisse. Sie ist ein Mosaik der unterschiedlichsten Lebensaspekte, und als solches verschmilzt sie mit Fatimas Persönlichkeit, die von Kapitel zu Kapitel reift: Islam und lesbische Liebe, Fußballspielen und Tanzen, Clique und Familie, Wissen und Ekstase, das alles sind komplementäre Bestandteile ihres Lebens. Fatima stellt nicht einen einzelnen Aspekt diktatorisch oder identitätspolitisch über alle anderen, nur um Ruhe zu haben. „L’état c’est moi“, der Staat bin ich, und zwar ein pluralistischer.
Die Regisseurin, die auch das Drehbuch schrieb, findet dafür mit ihrer Cutterin Géraldine Mangenot subtile Frechheiten. Einmal schneidet der Film von einer aufrechtstehenden Halbnackten auf ein Minarett, beides sind schließlich prachtvoll aufrechte Bildmotive, wobei der andächtig sich versenkende Kamerablick – von oben nach unten – fortgesetzt wird. Ein anderes Mal schneidet der Film mitten in Fatimas Verbeugung beim Gebet auf den Salto eines Kommilitonen. Eine Gebärde der (freiwilligen) Unterwerfung kann ja auch der Anfang eines Purzelbaums sein, und Frauenlob und Gotteslob werden Verwandte. Herzi entdeckt lieber Fortschreibungen als Gegensätze; sie brennt mehr fürs „Und“ als fürs „Aber“.
Die Schönheit des Nebeneinanders
Ihre elliptische Erzählweise und die Bildgestaltung von Jérémie Attard, die behutsam das Unglamouröse mit dem Verheißungsvollen in Berührung bringt, entfalten im gemessenen Tempo eines szenischen Ornaments eine ganz eigene, unaufgeregte Erotik. Voyeurismus und Drama lässt der Film hinter sich, weshalb er lediglich an der Oberfläche Ähnlichkeit mit „Blau ist eine warme Farbe“ hat. Ein ikonisches Bild zeigt Fatima mit Kapuzenjacke vor dem Mosaik einer Moschee. Es gibt kein symbolträchtigeres Bild für diesen Film, der seine Hauptfigur all ihre Lebensaspekte immer besser begreifen lässt und die Tatsache, dass diese wie bunte Steine nebeneinander bestehen müssen, um ihre Schönheit zu entfalten.
