Szene aus Die stillen Trabanten
Filmplakat von Die stillen Trabanten

Die stillen Trabanten

120 min | Drama, Lovestory
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Drei Geschichten, lose miteinander verbunden. Drei Geschichten über die Liebe, über die Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit und Glück, und über die Unmöglichkeit, dass dieses Verlangen erfüllt wird.

Filmkritik

Um sich einen ersten Eindruck von der seriösen Verbindlichkeit und der ungewöhnlich subtilen Qualität dieser komplex montierten Adaption dreier Erzählungen von Clemens Meyer zu verschaffen, könnte man sich einer Filmkritik Harun Farockis zu „Schneeglöckchen blühn im September“ von Christian Ziewer und Klaus Wiese aus dem Jahr 1975 erinnern. Darin kritisiert er die Darstellung von Arbeit ausgerechnet in einem Film, der dem kurzlebigen Genre des Berliner Arbeiterfilms zugerechnet wird, mit den Worten: „Von der Arbeit weiß man am Anfang so viel wie am Ende, die guten Leutchen machen immer die drei obligaten Hammerschläge, bevor sie wieder Dialog haben, lassen den Hammer und sagen: ‚Weißt du, ich hab’ dir doch neulich gesagt …‘ Keiner schlägt sich keinmal auf die Finger. Der in Berlin notorische Arbeiterdarsteller Nikolaus Dutsch wirft sogar den Kopf trotzig in den Nacken, wenn man ihn nach der Uhr fragt.“

Auch in „Die stillen Trabanten“ wird gearbeitet und (viel) gesprochen, aber das Verhältnis von Dialog, Schweigen, Rauchen und Arbeit scheint frappierend organisch ausbalanciert, was wiederum der Verbindlichkeit der Milieuschilderung auf die Sprünge hilft. Und dieses Milieu ist erfrischend anders als das übliche Personal des bundesdeutschen Mittelklasse-Kinos mit ihren Eigenheimen am Stadtrand und Altbauten mit Stuck. Nehmen wir zum Beispiel Hans, der als Vorarbeiter einem Trupp von Straßenarbeitern vorsteht, der sich um die Pflege des Straßenrandes irgendwo im Nirgendwo kümmert. Es wird Müll eingesammelt und gemäht.

Von der Kneipe zum eigenen Imbiss zum Ausländerheim

Nehmen wir Christa, die bei der Bahn in der Putzkolonne beschäftigt ist, die nachts die Züge reinigt und sich anschließend in der Bahnhofskneipe betrinkt. Nehmen wir Jens und Mario, die sich den Traum vom eigenen Imbiss erfüllt haben, wenngleich sich Mario mittlerweile eher als Inventar zu verstehen scheint. Dazu noch die Frisörin Birgitt und der Wachmann Erik, die Geflüchtete Marika, der Arbeiter Hamed. Und Aischa, die sich selbst der Feind war, als sie noch Jana hieß, wovon zahllose Narben Zeugnis ablegen. Jetzt ist sie mit dem strenggläubigen Hamed verheiratet, der einst in der Truppe von Hans gearbeitet hat, die dann in einer Arbeitspause eine Gruppe von Geflüchteten entdeckte, die um ein Kind fürchtete, das unwissentlich Herbstzeitlose gegessen hatte. Mittlerweile ist Hans ein Kollege von Erik, der nachts mit seinem Hund ein Ausländerheim bewacht und dabei die faszinierend kecke Marika trifft, die aus der Ukraine geflüchtet ist. Jetzt lebt sie in der Gegend, in der einst ihr Vater stationiert war.

Schlecht bezahlte Dienstleistungen, Straßenarbeit, Nachtarbeit, Migration – was sich wie ein Themenkatalog für ein konventionelles Fernsehspiel über das Leben in prekären Lebensverhältnissen liest, wird dem Ton, den Thomas Stuber in „Die stillen Trabanten“ anschlägt, mindestens teilweise, aber eigentlich komplett nicht gerecht. Tatsächlich geht es um das Abenteuer des Alltäglichen, um Zugewandtheit, überraschende Begegnungen und Einsichten, um die Kunst der Improvisation von Figuren, die eine Geschichte haben, die bemerkbar ist, selbst wenn sie nicht ausgebreitet wird. Wenn Erik Marika erzählt, dass sein Hund keinen Namen, sondern nur eine Nummer habe, dann beginnt Marika zu erzählen. Von ihrem Hund, von ihrer Kindheit, von ihrer Familie. Und Erik führt sie dann zu einer verlassenen Sowjetkaserne, die sich für einen Tanz in einen gut gefüllten Casino-Tanzsaal verwandelt. Mit Balalaika und Gesang voller Melancholie.

Poesie, die nicht auftrumpfen will

Solche Szenen geraten nicht kitschig, sondern leben vom Zauber einer Poesie, die nicht auftrumpfen will. Genau daran besteht die Qualität der Prosa von Clemens Meyer, für die Thomas Stuber kongeniale Bilder findet. Wenn sich Birgitt in der Bahnhofskneipe spontan zu Christa setzt und ein Gespräch über Kirschkerne beginnt, dann ist völlig offen, was sich daraus ergeben wird, aber am Schluss des Films blüht vor Birgitts Hauseingang ein Kirschbaum. Die Poesie des Films wirkt nicht gewollt, sondern ist dem Alltäglichen immanent, aber nicht berechenbar. Die Geschichte zwischen Jens und Aischa beginnt beim nächtlichen Rauchen und endet nicht beim plötzlichen Interesse Jens’ am Koran, weil die Religion der selbstzerstörerischen Jana etwas gegeben hat, was sie rettete. Jetzt ist sie mit Hamed verheiratet, aber glücklich nur bei Jens, was allerdings Jana zurück in ihr Leben holt. Wenn der freundliche Hamed Jens zu einem Tee in seine Wohnung einlädt, ist dessen Unbehagen zu spüren, hier gegenüber Aischa eine Grenze zu überschreiten, was dieser Geschichte einen Zug ins Unheilvolle verleiht.

Fernab aller Problemfilm-Klischees entwirft „Die stillen Trabanten“ ein Kaleidoskop voller Geschichten, die von Figuren erzählen, deren Biografien nicht gradlinig verlaufen sind, aber die sich eine Neugier und Offenheit bewahrt haben, die aber auch Einsamkeit und Verbitterung kennen. Dass mancher Traum begraben werden muss, dass etwa Marios Idee vom „Essen auf dem roten Teppich“ in einer Grillbude nur der zweitbeste Einfall, aber dafür sein großer Traum war, treibt ihn, wenn die Fliesenleger ihre Arbeit beendet haben, ins Ungewisse fort. Dass Christa einst, vielleicht vor 1989, als Hotelfachfrau arbeitete, damit rückt sie beim Schnaps in der Bahnhofskneipe erst spät heraus.

Im leichten Schwebezustand

Keine der vielen Geschichten, die „Die stillen Trabanten“ erzählt, andeutet und komplex verschränkt, hat einen Höhepunkt oder gar Schluss, was dem Film einen leichten Schwebezustand verleiht. Soll man von einem poetischen Realismus sprechen? Soll man von dem herausragenden und zudem äußerst prominent besetzten Ensemble von Darstellern und Darstellerinnen schwärmen, die hier „normale Menschen“ glaubhaft zu spielen verstehen? Oder eher davon, dass es Thomas Stuber gelungen ist, sich bei seinem noch überschaubaren Oeuvre die Mitwirkung einer Gruppe von Darstellern und Darstellerinnen zu versichern, wie man es von Fassbinder oder Graf, Cassavetes oder Ford kennt? So oder so: „Die stillen Trabanten“ ist ein kleines Filmwunder, eine grandiose Literatur-Adaption und zugleich auch ein Versprechen.

Erschienen auf filmdienst.deDie stillen TrabantenVon: Ulrich Kriest (15.6.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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