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Filmkritik
Wie weit kann man aus unserer modernen Gesellschaft herausfallen? Vermutlich nicht viel weiter als Lodge, ein Obdachloser, der in „Eddington“ von Ari Aster immer mal wieder durch die Straßen der titelgebenden Kleinstadt im Südwesten der USA irrt. Verwahrlost und praktisch nicht mehr ansprechbar, ist er meist auf der Suche nach Alkohol; hat er eine Flasche einmal im Visier, kann ihn außer körperlicher Gewalt nichts mehr aufhalten.
Und doch bleibt Lodge jemand, zu dem sich die Gesellschaft verhalten muss. Eine Person mit Rechten, zum Beispiel dem Recht, als potenzieller „zahlender Gast“ ein Lokal zu betreten, was er in „Eddington“ durchaus zu tun gedenkt. Theoretisch hat er auch Pflichten, etwa die, in Zeiten einer globalen Pandemie dem Mandat des Bundesstaates New Mexico entsprechend eine Maske zu tragen, wenn er das Lokal, das ihm zunächst versperrt bleibt, doch noch betritt.
Klar ist einerseits, dass Lodge nicht in der Lage ist, die Rechte und Pflichten, die ihm zustehen, in auch nur halbwegs verantwortungsvoller Manier auszuüben; tatsächlich eskaliert die Situation im selben Moment, in dem Lodge sich Zugang zum Lokal verschafft. Klar ist andererseits aber auch, dass die moderne Gesellschaft nur so lange eine lebenswerte bleibt, wie Lodge die Rechte und Pflichten, die er praktisch nicht ausüben kann, dennoch weiter zustehen.
Die Normalität will sich nicht mehr einstellen
Es sind Paradoxien dieser Art, die „Eddington“ zu einem nachhallenden Film über die Gegenwart machen. Eine Zeit, die der Corona-Pandemie, auf die der Film wie auf eine immer noch klaffende oder höchst ungeschickt vernähte Wunde blickt, gerade noch so entkommen ist. Der Ausnahmezustand ist vorbei, die Gesellschaft gibt es immer noch, aber ihre Normalität will sich einfach nicht mehr einstellen.
Die Corona-Jahre hatten den zweifelhaften Vorzug, dass sich die wachsende gesellschaftliche Polarisierung plötzlich in Form handfester Symbole manifestierte: die einen tragen Maske, die anderen nicht. Fast wie zwei Armeen, die sich anhand ihrer Uniformen unterscheiden lassen. Was gleichzeitig ein Rückfall in einen längst überwunden geglaubten Tribalismus war, an den Ari Aster geschickt anschließt, wenn er seinen Corona-Film zu einem modernen Western ausbaut.
Zunächst bekriegen sich in „Eddington“ zwei Camps. Auf der einen Seite der Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix), der eines Tages aus Frust über die Gesamtsituation beschließt, bei den kommenden Bürgermeisterwahlen anzutreten. Er stilisiert sich im Namen des gesunden, virenfreien Volksverstands zum Kämpfer gegen abgehobene Eliten, fährt fortan mit einem mit marktschreierischen Slogans beklebten Auto durch den Ort und rekrutiert kurzerhand zwei ihm untergeordnete Gesetzeshüter als Wahlkampfhelfer. Auf der anderen Seite steht der Amtsinhaber Ted Garcia (Pedro Pascal), der liberale Positionen zu vertreten scheint, über eine gut geölte Wahlkampfmaschinerie verfügt und möglicherweise etwas arg eng mit einer Tech-Firma verbandelt ist, die nahe Eddington ein Rechenzentrum errichten möchte. Was genau in dem Rechenzentrum vonstattengehen soll? Irgendwas mit AI.
Zusätzliches Öl ins Feuer gießt - auch das kennt man aus zahllosen Westernklassikern - eine Frauengeschichte. Joes Gattin Louise (Emma Stone) war vor langer Zeit einmal mit Ted verbandelt, was Joe nicht verwinden kann – wobei seine Wut auf Ted offensichtlich vor allem seinen ehelichen und sexuellen Frust externalisiert. Überhaupt ist das prekäre Verhältnis von Öffentlichem und Privatem ein zentrales Thema von „Eddington“. Draußen auf der Straße steht Joe ständig unter Strom, will stets alles im Blick und unter Kontrolle halten, der Welt seinen Willen aufzwingen. Zuhause, in den verschatteten, durchaus auch von Intimität und einem gemeinsamen Leben kündenden Wohn- und Schlafräumen, fällt die Energie und Aggressivität von ihm ab; er wird zum sanften Zauderer, fast zum kleinen Jungen.
Frust mit noch mehr Frust betäuben
In einer Szene schwebt seine Hand sekundenlang über der Schulter seiner Frau. Er kann sich aber letztlich nicht dazu entscheiden, sie zu berühren, obwohl er weiß, dass sie Trost braucht. Letztlich zieht er sich, wie so oft und wie auch viele andere Figuren, in die virtuellen Echokammern zurück, die ihm sein Handy zur Verfügung stellt. Ewiges Doomscrolling, Frust mit noch mehr Frust betäuben. Der öffentliche und der private Joe Cross: das sind zwei verschiedene Formen von Hilflosigkeit. Aber nur die eine, die öffentliche, hat das Potential, in Destruktion umzuschlagen.
Bis es so weit ist, reichert Aster das Pulverfass Eddington mit weiteren explosiven Ingredienzen an. Zum Beispiel mit – in diesem Fall fast ausschließlich weißen – „Black Lives Matter“-Aktivisten, in deren Umfeld sich ein weiteres Liebesdreieck bildet. Oder mit einem von Austin Butler gespielten Sektenführer, der sich an Joes Frau heranmacht. Wobei „Eddington“ tendenziell umso schwächer wird, je weiter der Film sich vom Gravitationszentrum Joe Cross entfernt. Nicht jede satirische Spitze sitzt und manchmal arbeitet sich Aster an etwas arg einfachen Zielen ab. Insbesondere ein Handlungsstrang um einen Möchtegern-Aktivisten, der mit angelesener Radikalinski-Rhetorik insbesondere eine hübsche Blondine verführen will, fühlt sich einigermaßen unausgegoren an.
Die letzten Sicherheiten weggeballert
Was fürs große Ganze des Films aber nicht viel ausmacht. Denn gerade wenn Asters Krawallpanorama zur Filmmitte hin ein wenig zu zerfasern droht, zündet Joe Cross die nächste Eskalationsstufe, und bald darauf schwebt ein wie aus einem Computerspiel in den Film hineinkopiertes Antifa-Flugzeug über New Mexico. Was folgt, ist ein düster leuchtender, bleihaltiger Höllentrip, die Vision einer Welt, in der die Paranoia vom Denken aufs Wahrnehmen und Handeln übergreift und das Kommunikationsnetzwerk Gesellschaft zum Egoshooter schrumpft. Aster ballert damit noch die letzten Sicherheiten der Welt unter den Füßen weg. Das sollte man gesehen haben.
