




- Veröffentlichung14.08.2025
- RegieAndrea Deaglio
- ProduktionItalien (2024)
- Dauer64 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
Vorstellungen
Filmkritik
Ein kleiner Junge spielt ruhig und konzentriert mit bunten Figuren in einer Kiste Sand. Neben ihm sitzt eine ältere Frau und beobachtet seine Bewegungen, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln. Je länger die Kamera auf dieser alltäglich wirkenden Szene verweilt, desto spürbarer wird eine untergründige Anspannung zwischen den beiden. Das Kind zögert, sein Agieren mit dem Spielzeug wirkt nicht fließend und selbstvergessen, sondern abrupt und aggressiv. Da sind Spinnen, Tausendfüßler und kleine Panzer im Sand. Eine menschliche Figur wird zwischen ihnen in einem Loch tief vergraben. Der Blick der Frau verändert sich plötzlich. Ihre weit geöffneten Augen signalisieren dem Jungen, dass gerade etwas Gravierendes Ausdruck gefunden hat.
Von morbide bis schön
Die 1952 geborene Psychotherapeutin Eva Pattis Zoja arbeitet schon lange mit minderjährigen Überlebenden schwerer Traumatisierungen wie Kriegen, Genoziden oder Naturkatastrophen. Dafür bildet sie auch Kolleginnen aus, die vor Ort, beispielsweise in der Ukraine, mit Kindern arbeiten. Der italienische Dokumentarfilmregisseur Andrea Deaglio stieß bei seinen Recherchen über jesidische Opfer von IS-Terror auf ihre Praxis der „Expressiven Sandarbeit“ und war fasziniert von deren spezifischer Verbindung aus Visualiät und intuitiven Verbindungen, die ihn an das szenische Arbeiten des Films erinnerte.
Durch eine riesige Fülle möglicher Figuren erschaffen die kleinen Patienten bildliche Konfigurationen, die sehr unterschiedliche Qualitäten ausdrücken können. Morbide, erschreckende Szenarien mit wilden Tieren und Ungeheuern, aber auch erstaunlich schöne Gruppierungen von solidarischen Figuren, die Gemeinschaften bilden und Schutz geben.
Sandspiel als imaginative Welttechnik
Pattis Zoja ist als Kinder- und Jugendanalytikerin in der Tradition von C.G. Jung ausgebildet, deren Fokus auf Archetypen, Bildern und Traumsymbolen liegt. Bereits in den 1920er-Jahren entwickelte die britische Kinderärztin Margaret Lowenfeld in der Arbeit mit geflüchteten Kindern des Ersten Weltkrieges die Sandspieltherapie und nannte sie „Worldtechnique“. Sie beobachtete, wie die Traumatisierten in den Sandkisten ganz eigene Welten erschufen, und beschloss, dies für gezielte therapeutische Interventionen zu nutzen. Von den freudianischen Analytikern in England wie Melanie Klein und Donald Winnicott, die sich besonders für den Spieltrieb und frühkindliche Entwicklung interessierten, wurden ihre Ansätze jedoch abgelehnt. Sie fanden später Anklang bei Jung‘schen Analytikern wie der Schweizerin Dora Kalff, die sie zur „Expressiven Sandarbeit“ weiterentwickelte.
Andrea Deaglio nimmt sich zu Beginn viel Zeit, um die Arbeit der Therapeutin zu dokumentieren und sie bei Gesprächen mit Kolleginnen und Vorträgen zu begleiten. Dennoch bleiben dabei viele Fragen zur Durchführung und Zielsetzung der Methode offen. In angeblich nur acht Sitzungen sollen die Kinder dazu gebracht werden, sich aus dem Zustand der massiven Traumatisierung zu lösen und wieder Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Immer wieder wird die Wirksamkeit der Sandarbeit betont, ohne ihre Komplexität wirklich zu erklären. Dabei liefern die Aufnahmen Deaglios durchaus Indizien für eine interessante Vieldeutigkeit der kindlichen Welten, deren Unabschließbarkeit sich durch die nahen Kamerafahrten an den Figuren entlang zeigt. Sie stehen in einem merkwürdigen Widerspruch zu den klaren Interpretationen, mit denen die Therapeutinnen die Ergebnisse ihrer Sitzungen präsentieren.
Trauma und transgenerationelle Weitergabe
Unwillkürlich kommen dabei Assoziationen zu Rithy Panhs Essayfilm „Das fehlende Bild“ auf. Dort wird der Genozid der Roten Khmer mit kleinen Figurendioramen in Szene gesetzt, deren tönernes Material dem Lehm der Killing Fields entnommen wurde. Panh selbst nutzt dies als ästhetisches Durcharbeiten eigener traumatischer Erfahrungen während seiner Kindheit in Kambodscha. Sein Film ist klug genug, die Uneinholbarkeit des Erlebten künstlerisch immer mitzureflektieren. Davon findet sich in Deaglios Dokumentation, die sehr konventionelle Darstellungsweisen einsetzt, leider wenig.
Auch gerät er dramaturgisch in eine merkwürdige Unentschlossenheit in Bezug auf seinen eigenen Gegenstand. Zunehmend nimmt er die persönliche Geschichte von Eva Pattis Zoja in den Blick, lässt sie plötzlich als Ich-Erzählerin auftreten und ist bemüht, ihre Familiengeschichte in Resonanz mit den Erfahrungen der kriegstraumatisierten Kinder zu bringen. Das ist insofern schwierig, als dass „Trauma“ und „Transgenerationelle Weitergabe“ eine Art übergreifenden Rahmen bilden sollen, der Gefahr läuft, beliebig und unspezifisch zu werden.
Pattis Zoja liest im Film Briefe ihrer eigenen Mutter an einen Geliebten vor, der an der russischen Front während des Zweiten Weltkrieges gefallen ist. Dieser Mann ist nicht ihr Vater, aber als sensibles Kind spürte sie ihr Leben lang eine tiefe Abwesenheit in der Beziehung zur Mutter, die auf diesem schweren Verlust gründet. Die Bilder aus ihrem privaten Familienarchiv allerdings mit Kriegsfotografien aus dem Irak und Donbass sowie Ungeheuern im Sand in einer schnellen Montage zu präsentieren, ist nicht nur visuell aufdringlich, sondern vor allem ungenau. Von einer akuten Traumatisierung betroffen zu sein, wie die Ermordung eigener Angehöriger mitansehen und um sein Leben fürchten zu müssen, ist etwas ganz anderes als das Schweigen und die Leere in der nächsten Generation, auch wenn sie in Beziehung stehen können. Sicherlich gibt es übergreifende Mechanismen, die für Traumafolgen kennzeichnend sind, jedoch gibt es eben auch historisch spezifische und kulturelle Unterschiede in den auslösenden Ereignissen sowie den kollektiven Verarbeitungsangeboten.
Ein Raum für das Unausdrückbare
Gerade davon hätte man im Film gerne mehr gesehen, denn die Arbeit der Sandtherapeutinnen ist grundsätzlich faszinierend und für die Kinder und Jugendlichen eine sehr wichtige Möglichkeit, Ansätze eines Kohärenzgefühls zu entwickeln. Die Familiengeschichte von Pattis Zoja wiederum erklärt eher, warum sie als Therapeutin so gut geeignet ist: Ihre Offenheit dem Leiden anderer gegenüber schafft einen Raum für das Unausdrückbare, den sie mit ihrer Arbeit zu halten vermag. Sie zeigt aber auch, dass diese Auseinandersetzung nicht in acht Sitzungen aufgearbeitet werden kann, sondern eine Lebensaufgabe ist.
