Szene aus HUMAN RIGHTS FILMFESTIVAL 2023: BEYOND UTOPIA
Filmplakat von HUMAN RIGHTS FILMFESTIVAL 2023: BEYOND UTOPIA

HUMAN RIGHTS FILMFESTIVAL 2023: BEYOND UTOPIA

115 min | Dokumentarfilm
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Filmkritik

Das an China und Südkorea grenzende Nordkorea gilt als einer der repressivsten Staaten der Welt. Die kommunistische Diktatur, die von dem sogenannten „Obersten Führer“ Kim Jong-un mit eiserner Hand regiert wird, knechtet ihre eigene, Hunger leidende Bevölkerung, bespitzelt sie auf Schritt und Tritt und hat die Kommunikation nach außen – Telefon und Internet – vollkommen gekappt. Nordkoreaner leben wie auf einer von jeglicher Realität und allen Vergleichen mit anderen Ländern abgeschnittenen Insel. Deshalb sind sie besonders empfänglich für die Propaganda, die ihnen schon seit frühester Kindheit eingetrichtert wird. Da das Regime aber auch nicht davor zurückschreckt, für minimale Fehltritte drastische Strafen zu verhängen, finden sich immer wieder Menschen, die das Risiko auf sich nehmen, aus dem Land zu flüchten. Straflager, Folter und – zum Teil öffentliche – Exekutionen gehören zu den Abschreckungsmaßnahmen des Staates, denen sie entgehen wollen. Bei einer verfehlten Flucht drohen sie allerdings ebenso.

Heimlich gedreht und außer Landes geschmuggelt

Der Dokumentarfilm von Madeleine Gavin widmet sich solch verzweifelten und mutigen Menschen, die für ein besseres Leben alles in Nordkorea zurücklassen. Das Bildmaterial in Nordkorea wurde heimlich gedreht und außer Landes geschmuggelt. Andere Aufnahmen entstanden durch die Flüchtlinge selbst oder ein Filmteam auf der Fluchtroute. Denn die fünfköpfige Familie Roh – ein Paar, die 80-jährige Mutter der Frau sowie zwei kleine Kinder – hat die Flucht gewagt und steckt nun in einer Bergregion in China fest. Da die Grenze zwischen Nord- und Südkorea vollkommen vermint ist, mussten sie wie andere Fluchtwillige den reißenden Fluss Jalu nach China überqueren. Auf der anderen Seite lauern allerdings chinesische Grenzsoldaten, die für die Ergreifung oder Erschießung der Flüchtlinge belohnt werden – mit Auszeichnungen oder Extra-Urlaub. Auch chinesische Zivilisten, die nordkoreanische Flüchtlinge denunzieren, werden mit hohen Geldsummen entlohnt.

Nun kommt ein südkoreanischer Pastor namens Kim ins Spiel. Er hat bereits Hunderten Nordkoreanern zur Flucht verholfen und verfügt durch Spenden über finanzielle Ressourcen und Schleuser in verschiedenen Ländern. Denn wie viele vor ihnen muss auch die Familie Roh innerhalb Chinas Tausende von Kilometern bis nach Vietnam in Autos zurücklegen und in geheimen Unterkünften übernachten. Danach soll es durch Vietnam und Laos bis nach Thailand gehen. Erst am letzten Ziel sind die Flüchtlinge sicher und können den Flug nach Südkorea antreten. Denn Vietnam und Laos unterhalten gute Beziehungen zu Nordkorea und schicken die Flüchtlinge ebenfalls in ihr Ursprungsland zurück. Da die Familie entkräftet ist und in ständiger Gefahr vor der Enttarnung steht, handelt der Pastor mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, und die lange und gefährliche Flucht aus China beginnt.

Die Herangehensweise überschreitet Grenzen

Doch der Film schildert noch ein weiteres Schicksal. Soyeon Lee musste bei ihrer Flucht aus Nordkorea ihren damals siebenjährigen Sohn zurücklassen. Nun, zehn Jahre später, will sie ihm zur Flucht verhelfen, steht ständig in Kontakt zu Fluchthelfern. Doch die Flucht misslingt, der Sohn wird von den Nordkoreanern gefasst und schwer misshandelt, während seine Mutter ohnmächtig die weiteren Geschehnisse abwarten muss. Dabei filmt die Kamera des Filmteams ihre Verzweiflung, ihre emotionalen Ausbrüche – alles im Dienste des Films. Doch muss das sein? Zuweilen überschreitet die Herangehensweise der Regisseurin Grenzen. Nicht jeder intime Moment gehört in die Öffentlichkeit, etwa die Tränen der flüchtenden Kinder in Nahaufnahmen. Auch die Spannung, die Gavin mit dem Filmen der Fluchtfamilie Roh schürt, ist ethisch fragwürdig. Schließlich handelt es sich um keinen fiktiven Krimi, sondern um tatsächliche Schicksale und Menschen, deren Leben auf dem Spiel steht.

Unterbrochen werden die beiden Fluchtgeschichten von Schilderungen anderer Ex-Flüchtlinge, die von ihren schmerzlichen Erfahrungen in Nordkorea erzählen. Unmenschliche Bedingungen in Straflagern und Gulags kommen zur Sprache. Hyeonseo Lee, Autorin des Buches „Schwarze Magnolie - Wie ich aus Nordkorea entkam“, berichtet vor allem von der permanenten Indoktrinierung durch das Regime. Zur Illustration benutzt der Film auch nordkoreanische Propagandabilder von Massenaufläufen und Paraden. Expert:innen bieten historische Exkurse über die Geschichte Koreas, seine Teilung und die Errichtung der Diktatur im Norden des Landes. Dazu wird historisches Archivmaterial gezeigt und dem Publikum eine Einordnung der Geschehnisse ermöglicht. Die Backstory von Soyeon wiederum illustrieren Animationen, etwa eine Szene, in der sie ihren Sohn zum letzten Mal sieht.

Ein wichtiges Zeitdokument

Solcherlei Verfremdungen fügen sich besser in das Sujet ein und vermitteln den Zuschauern eindrücklicher, in welcher emotionalen und existenziellen Notlage sich die Protagonistin befindet, als die Realaufnahmen, die ihre unmittelbaren Reaktionen einfangen. Auch so viel sei verraten: Eine Flucht im Film wird von Erfolg gekrönt sein, die andere nicht. Damit vermittelt der Film ein realistisches Bild von den Chancen, aus Nordkorea zu entkommen.

Trotz inszenatorischer Ausrutscher ist „Flucht aus Nordkorea“ ein wichtiges Zeitdokument. Im Vergleich mit Vitali Manskys Mockumentary „Im Strahl der Sonne“, der die Lage in Nordkorea zuweilen ins Lächerliche zog, vermittelt der Film einen plastischen Eindruck der erschreckenden Verhältnisse dort, die für Bewohner der westlichen Welt kaum nachvollziehbar sind.

Erschienen auf filmdienst.deHUMAN RIGHTS FILMFESTIVAL 2023: BEYOND UTOPIAVon: Kira Taszman (28.2.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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