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Invisible People

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Ist eine vielschichtige Darstellung des einzigartigen japanischen zeitgenössischen Tanzes Butoh, der zwischen Aufruhr, Erotik, Trance, Gebet, uralter Erfahrung und körperlicher Anonymität pendelt. Der Film entfernt sich allmählich von seinem Kernthema und wird zu einer allgemeinen Darstellung des Lebens selbst, mit all seinen unvorhergesehenen Schicksalsschlägen und seltsamen Mikroverbindungen.

Wer sind die unsichtbaren Leute, auf die der Filmtitel verweist? Diejenigen am Rand der Gesellschaft, Arme und Obdachlose etwa, die viele lieber nicht sehen wollen, selbst wenn sie im sogenannten Stadtbild immer weniger zu übersehen sind? Oder sind alle anderen unsichtbar, all jene, die zur „Masse“ gehören, in der man, einer geläufigen Redewendung zufolge, nur allzu leicht verschwinden kann?

Der experimentelle Dokumentarfilm „Invisible People“ von Alisa Berger legt beide Lesarten gleichermaßen nahe. Berger nähert sich dem Butoh an, einer Tanzströmung, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan entstand und vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren in gegenkulturellen Kreisen von sich reden machte. Von den stark formalisierten traditionellen japanischen Tänzen setzt sich Butoh ebenso ab wie von den westlichen Modetänzen, die zur selben Zeit aus den USA in den ostasiatischen Inselstaat importiert wurden.

Improvisation & Struktur

Butoh ist, das macht „Invisible People“ in Wort und Bild klar, eine hochgradig artifizielle Kunstform, die zumindest in Teilen paradox strukturiert ist. Feste Regelwerke lehnen die Butoh-Meister ebenso ab wie Improvisation. Getanzt wird zumeist allein, und keine Performance gleicht der anderen; andererseits soll die Persönlichkeit der Tänzer im Akt des Tanzens unsichtbar werden. Womit man wieder beim Filmtitel ist. Eine Anschlussfrage wäre zum Beispiel, ob unsichtbar zu sein einen Fluch oder einen Segen darstellt. Oder ob die Art von Unsichtbarkeit, auf die Butoh abzielt, etwas allgemein Menschliches zum Ausdruck bringt – oder vielmehr etwas, zu dem nur eine kleine Gruppe der Auserwählten Zugang findet.

Unsichtbar geworden ist, erzählt die Voice-Over-Stimme von Alisa Berger, auch der Vater der Regisseurin, nach einer Krebserkrankung. Es gibt einen autobiografischen Faden, der absichtsvoll mit anderen Fäden verheddert wird. Neben ihre eigene Stimme stellt Berger andere Stimmen; gemeinsam erzählen sie die Geschichte der Butoh-Bewegung. Dabei geht es unter anderem um deren Gründer Tatsumi Hijikata und Kazuo Ōno, um Hijikatas Partnerin, die Balletttänzerin Motofuji Akiko, um legendären Skandalperformances aus der Butoh-Frühzeit, bei denen schon mal Hühnerblut über die Bühne floss, um kommerzielle Strip-Shows, die ihrerseits die ebenfalls oft stark sexualisierten Butoh-Experimente finanzierten – ein Accessoire von Hijikata bei seinen Performances war ein goldener Penis – und um einiges mehr. Ein Butoh-Künstler erzählt davon, wie er sich wochenlang darauf gefreut hatte, eine Pina-Bausch-Tanzaufführung zu besuchen – nur um diese dann, als es so weit ist, komplett zu verschlafen.

Ein Film im reinen Präsens

Die Stimmen, die der Film versammelt, sind nicht hierarchisch geordnet. Erst recht gilt das für die Bilder. Dabei fällt auf, dass Berger in den historiografischen Passagen komplett auf Archivmaterial verzichtet. „Invisible People“ erzählt die Geschichte des Butoh durchgängig im audiovisuellen Präsens. Am Anfang stehen pulsierende Flicker-Effekte, sinnlich überhitzte Abstraktionen; auch wenn später identifizierbare menschliche Körper das Bild dominieren, dominiert der Eindruck des Instabilen, Hybriden. Berger filmt eine Reihe von Tanzperformances, manche vor stilisierter Studiokulisse, andere im öffentlichen Raum, dazwischen stehen porträtartige Aufnahmen von Menschen, die mit Vorliebe direkt in die Kamera schauen. Mal sind die Aufnahmen im naturalistischen Stil gehalten, mal durch Unschärfen und Zeitrafferaufnahmen verfremdet. Zudem scheinen verschiedene Aufnahmeverfahren, von 16mm bis Handykamera, zum Einsatz zu kommen.

Was die Tänze betrifft, so gibt es eine Tendenz zur Horizontalen. Man sieht menschliche Körper, meist mit sehr wenig Kleidung am Leib, dafür oftmals bemalt, die sich krümmen, verbiegen oder kollabieren, sich immer wieder auf dem Boden wälzen, konvulsiv, getrieben von einer Kraft, die, aus der Perspektive eines Publikums weder in noch außerhalb ihrer selbst verortbar ist. Die Geschichte des Butoh, wie sie auf der Tonspur erzählt wird, seine möglichen Bedeutungsdimensionen oder auch nur die „technischen“ Aspekte dieser Tänze, erschließt sich nur sehr bedingt. Der Film lässt einen mit den Körpern auf der Leinwand allein, was in den besten Momenten in der Freiheit einer totalen Immersion im kontextlosen Moment aufgeht; in anderen, gar nicht mal so wenigen Momenten aber doch ein wenig beliebig anmutet.

Veröffentlicht auf filmdienst.deInvisible PeopleVon: Lukas Foerster (5.11.2025)
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