




- Veröffentlichung16.10.2025
- RegieArjun Talwar
- ProduktionDeutschland (2025)
- Dauer97 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 12
- IMDb Rating7.9/10 (54) Stimmen
Vorstellungen
Filmkritik
Eine Widersprüchlichkeit der Menschen in Polen bestehe darin, dass sie einerseits stolz sind, wenn sie mit fremden Kulturen in Kontakt kommen. Andererseits hätten sie aber auch ständig Angst, dass ihr Land besetzt werde. So analysiert die Psychoanalytikerin Barbara Goettgens den Umgang ihrer polnischen Landsleute mit Ausländern. Der indische Filmemacher Arjun Talwar, der aus Neu Delhi stammt und dem auf der Straße aufgrund seines Aussehens häufig „Michael Jackson“ hinterhergerufen wird, versucht alles, um sich in dem Land anzupassen. Er hat die Sprache gelernt, die polnische Kultur erforscht und sucht Kontakt zu seinen Mitmenschen. Eigentlich wollte Talwar Mathematiker werden wollen, hat sich dann aber von seinem Freund Adi überreden lassen, nach Warschau zu ziehen. Alte polnische Filme hatten sie dazu motiviert. Talwar studierte dann in Polen an der Filmhochschule in Łódź und dreht nun Dokumentarfilme. Adi hingegen hat das Leben in Polen nicht ertragen – er hat sich umgebracht.
Ein Mann namens Wilk
Um seines Freundes zu gedenken und das Wesen der Polen auch mit der Kamera zu ergründen, hat Talwar einen Film über die Straße in Warschau gedreht, in der er wohnt. Sie heißt Wilcza, „die Wölfische“. Doch Wölfe haben hier nie gewohnt, informiert der Briefträger Piotr. Vielmehr habe das Land vor etlichen Jahrhunderten einem Mann namens Wilk (Wolf) gehört. In der vom Zweiten Weltkrieg einigermaßen unversehrt gebliebenen Straße leben die unterschiedlichsten Menschen. Ausgehend von einer Nachbarin, die jeden Morgen ihr Bettzeug auf dem Balkon lüftet, hat Talwar sein Beobachtungsfeld nach und nach ausgeweitet. Zunächst fallen ihm die mit Drähten quer über die Straße gehängte Nachtbeleuchtung, dann Verbots- und Warnschilder auf. Polen beschweren sich gerne, bestätigt der Hausmeister. Zudem wartet jeder Hinterhof in der Straße mit einem eigenen Heiligenschrein auf. In Talwars Hof scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Ruß auf den Fassaden und Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg führen zurück in die Geschichte.
Die Menschen hätten sich geändert, behauptet die Fleischerin der Straße. Früher habe es mehr Zusammenhalt gegeben. Die Kioskbesitzerin bestätigt dies. So sammelt Talwar Ansichten und Geschichten über die Wilcza. Zusammen mit Piotr vermisst er die Straße sogar: Sie ist 15,5 Meter breit und etwa einen Kilometer lang. In ihr befinden sich unter anderem eine Polizeistation, ein Bestatter, ein Glockenturm, eine Tanzschule, zwei Gemüseläden, zwei Kirchen, vier „chinesische“ Restaurants – in Wirklichkeit sind es vietnamesische, und etliche Friseursalons.
Sobald der Filmemacher mit den Menschen ins Gespräch kommt, öffnen sie sich ihm. Talwar hat aber auch anderes erlebt: Einmal wurde er von Skinheads krankenhausreif geschlagen. Doch sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im polnischen Volk hat ihn nie verlassen.
Elstern, Krähen und der tote Freund
Während der Regisseur mit seinen polnischen Gesprächspartnern vor der Kamera Polnisch spricht, analysiert und philosophiert er im Off auf Englisch über die Polen, die menschliche Psyche und die Bedeutung von Heimat(-losigkeit). Stets bindet er auch den abwesenden Adi mit ein und führt ein posthumes Gespräch mit ihm. Symbole aus seinem indischen Heimatland – vor allem Elstern und Krähen – fließen in die Bildsprache mit ein.
Immer wieder schneit es in der Wilcza. Winterliche Bilder spiegeln den schwankenden Gemütszustand des Filmemachers, der zwischendurch den Mut verliert, weil sein Projekt nicht genügend Filmförderung findet. So erscheint der Film auch als Reflexion über die prekäre Situation von Künstlern.
Dennoch ist „Briefe aus der Wilcza“ alles andere als düster. Regelmäßig gibt es absurde und komische Szenen, die durch geschickte Schnitte potenziert werden. Einmal wagt sich der Filmemacher auf eine rechtsradikale, ultranationalistische Demonstration, die mit polnischen Flaggen, erzkatholischen Werten und nationalistischen Sprüchen die Unabhängigkeit Polens feiert. Sie findet offenbar in der Prachtstraße Marszałkowska statt, welche die Wilcza kreuzt. Talwar lässt seine engste Vertraute, die Chinesin Mo, eine Ex-Kommilitonin, die als seine Tontechnikerin agiert, das Mikro dort in die Menge halten und sucht das Gespräch mit den Nationalisten. Auch hier begegnet ihm interessanterweise weniger Ablehnung, als man denken könnte. Einmal darf er sogar eine polnische Nationalflagge halten – auch das ist komisch, selbst wenn man dabei um seine Sicherheit bangt.
Ein weiterer Gesprächspartner ist Feras aus Syrien. Er schwankt zwischen Anpassung und Sehnsucht nach seiner früheren Heimat Damaskus. Dennoch hat er eine Polin geheiratet, bringt dem gemeinsamen Kind aber seine aramäische Muttersprache bei und feiert im Laufe des Films seine Einbürgerung mit polnischem Pass.
Mit Herz und Verstand
Auf diese Weise hinterfragt Arjun Talwar mit Herz und Verstand seine selbst aufgestellten Hypothesen. Er lässt Polen und Nichtpolen zu Wort kommen und deckt dabei die Vielfalt der in Polen – oder zumindest in Warschau – lebenden Ausländer, aber auch der Polen auf. Auf der anderen Seite dokumentiert er aber trotz seiner Aufgeschlossenheit und seines Humors auch erschreckende Vorurteile und Stereotype gegenüber Ausländern.
Der Briefträger Piotr steht dabei für ein aufgeschlossenes Polen, genau wie der Schuster in der Straße, der seine Leidenschaft zum Beruf gemacht hat und Schuhe am liebsten gratis reparieren würde. In dem polnischen Rom Oskar findet Talwar wiederum einen Bruder im Geiste. Der sympathische Mann versucht die Anfeindungen, die er und seine Familie regelmäßig ertragen müssen, nicht an sich heranzulassen. Er fühlt sich mit Talwar verbunden, denn auch seine eigenen Vorfahren kamen schließlich aus Indien. Dennoch steht sein Schicksal symbolisch für die Fragestellung des Filmemachers: Wenn Roma wie Oskar es in Jahrhunderten nicht geschafft haben, in Polen akzeptiert zu werden, wie soll er selbst es dann in nur wenigen Jahren schaffen?
