Szene aus Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung
Filmplakat von Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung

Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung

109 min | Dokumentarfilm, Historie | FSK 12
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Ist es moralisch vertretbar, die Zivilbevölkerung als Mittel des Krieges einzusetzen? Angelehnt an den Text „Luftkrieg und Literatur“ von W. G. Sebald und anhand von Archivmaterial zeigt der ukrainische Regisseur die Zerstörung deutscher Städte durch die Angriffe der Alliierten im Zweiten Weltkrieg auf und führt die Absurdität der Massenzerstörung vor Augen. Die Frage ist heute noch genauso aktuell, wie vor 80 Jahren und ihre Dringlichkeit zeigt sich auf tragische Weise im aktuellen politischen Geschehen.
  • RegieSergei Loznitsa
  • ProduktionDeutschland, Litauen, Niederlande
  • Dauer109 Minuten
  • GenreDokumentarfilmHistorie
  • AltersfreigabeFSK 12
  • IMDb Rating6.8/10 (75) Stimmen

Filmkritik

Blitzende weiße Lichter durchdringen das Schwarz der Nacht. Man weiß, dass man so nicht schreiben sollte, aber man denkt an den leuchtenden Sternenhimmel und aufglühende Meteoriten, wenn man das Spektakel sieht, das Sergei Loznitsa in „Luftkrieg - Die Naturgeschichte der Zerstörung“ aus britischen und deutschen Filmarchiven geborgen hat.

Dürfen Bilder, die die Zerstörung zeigen, ästhetisch so aufbereitet werden? Es ist eine alte Frage, und Loznitsa ist schlau genug, seine zugleich nüchtern und hochartifiziell aneinandergereihten Bilder des Luftkriegs gegen Deutschland während des Zweiten Weltkriegs nie ganz zu poetisieren. Vielmehr bewegt er sich an der Schwelle zwischen symphonischer Überhöhung und archivarischer Dokumentationspflicht.

Sichtbar machen, was sonst verloren geht

Loznitsa interessiert augenscheinlich ohnehin anderes, nämlich das Aufbereiten einer vergangenen Wirklichkeit, das heißt eine möglichst urteilsfreie Vergegenwärtigung, die sichtbar macht, was sonst verlorenginge. Das ist faszinierend, und doch geht das Vertrauen in die Bilder, die in unbekannten Kontexten entstanden sind, sehr weit. Könnte es nicht sein, dass diese Bilder der Zerstörung selbst zerstörerisch wirken? Bedeutet das Zeigen dieser Bilder wirklich, die Wahrnehmung zu wecken? Diese Fragen können nicht beantwortet werden, aber sie schwingen mit, wenn man über „Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung“ nachdenkt.

Wie schon in „Austerlitz“ entleiht Loznitsa den Titel seiner Found-Footage-Dokumentation bei dem Schriftsteller W.G. Sebald, der sich in seinen Essays in „Luftkrieg und Literatur“ mit jenem Stück Kriegsgeschichte beschäftigte, das seiner Ansicht nach kaum Eingang in die Literatur und das kollektive Gedächtnis gefunden hat. Die Bombenangriffe der Alliierten auf Nazi-Deutschland stellen schwer zu beantwortende moralische Fragen, etwa jene nach der Rechtfertigung erbarmungsloser Gewalt im Angesicht eines menschenverachtenden und kriegsführenden Regimes.

Loznitsa tut gut daran, solche Fragen nicht zu beantworten, sondern lediglich aufzuwerfen. Außer Thema und Titel eint ihn mit W.G. Sebald eine schwer zu beschreibende Entrücktheit, die sich im möglichst reinen, unaufhaltsamen Beschreiben und Zeigen übt, um gerade dort, wo Ideologien, Emotionen und Politik sonst alles verschwimmen lassen, einen luziden Erkenntnisgewinn zu schaffen. Dieser besteht aus dem auf Wahrnehmung basierenden Wissen, dass die Welt zu komplex ist, um eine einfache Meinung zu haben. So kommt es auch, dass das Grauenvollste so berauschend glänzt.

Ein anderes Bild des Krieges

Gleichzeitig aber geht es darum, überhaupt mal ins Bewusstsein zu rücken, was nicht ins klassisch-mediale Narrativ des Kriegsgeschehens passt. Die Verbrechen der Nazis haben das rücksichtslose Vorgehen der Alliierten lange Zeit gerechtfertigt. Auch Sebald erntete viel Kritik, als er das Schweigen über diese andere Seite des Kriegstraumas anklagte. Man erlebt diese Fragen, in denen Notwendigkeit und Mittel schwer auseinanderzuhalten sind, derzeit auch beim russischen Angriffskrieg. In diesem Sinne interessiert sich Loznitsa für ein anderes Bild des Krieges, als es die Tagesaktualität liefern kann.

Seine in gewohnter Zusammenarbeit mit dem Tonvirtuose Vladimir Golovnitski geradezu aus den Archiven in die Gegenwart springenden Bilder zeigen alltägliche Eindrücke aus dem Dritten Reich, die Vorbereitungen von Bombenangriffen auf britischer Seite, Aufnahmen aus den Flugzeugen, meist in Schwarz und Weiß, zwischendurch auch in Farbe, sowie das Ausmaß der Zerstörung und in den Trümmern umherirrende Menschen. Kontextualisiert werden die Bilder durch vier Reden von Admiral Arthur Harris, Winston Churchill, Field Marshall Bernard Montgomery und Joseph Goebbels.

Da die meisten Bilder nachvertont und teilweise auch nachsynchronisiert wurden, entsteht ein Effekt, den man bereits aus anderen Found-Footage-Filmen von Loznitsa kennt: Man wähnt sich in der Gegenwart, findet sich aber ganz und gar inmitten der vergangenen Welt, die noch einmal unheimlich nahe vor einem aufscheint und erklingt. Schließlich fragt man sich, ob das wirklich die Vergangenheit ist. Gleichzeitig mutet Loznitsas Eingriff manchmal etwas plump an, wenn er die Arbeit in einer deutschen Fabrik beispielsweise mit Musik von Wagner untermalt.

Das Menschliche und das Materielle

Loznitsa befreit den vergangenen Krieg teilweise aus der Abstraktion, mit der er in politischen Debatten oft betrachtet wird. Das gelingt ihm auch deshalb, weil er eine konsequente Dualität durch seine Montage aufrecht hält, nämlich das Menschliche (Nahaufnahmen, Trauernde, Einzelschicksale) und das Maschinelle (die Konstruktion der Waffen, das Rumoren der Fliegermotoren). Diese inhaltliche Ebene korrespondiert mit den gestellteren Bildern aus deutschen Archiven und den direkteren Aufnahmen der Briten. Dazwischen findet er einen erbarmungslosen Rhythmus, der fast musikalisch anmutet, indem ein Apparat in Bewegung gerät, der die Kategorien des Kinos, nämlich Montage, Licht, Ton, Erinnerung, mit dem endlosen Hin und Her aus Provokation, Gewalt, Eskalation zusammenbindet. Er erhebt also die so geerdeten Bilder wieder ins Abstrakte; genau darin liegt der Wert dieser Bilder. Sie zeigen in ihrer entrückten Nähe keine chronologische Dramaturgie des Krieges, sondern beschränken sich auf ein davon losgelöstes, zeitloses System der Zerstörung.

Aber genügt das? Es kommt wohl darauf an, was man sich von einem Film verspricht. Im Medium des Sichtbarmachens erfüllt „Luftkrieg“ sämtliche Anforderungen an einen bedeutenden Film, auch weil er genug Raum für die Zusehenden lässt, sich eine eigene Haltung aus den Bildern zu erarbeiten. Dass Loznitsa das so stehen lässt, ist mutig und ein wichtiges Gegengewicht in Anbetracht all der Sicherheit, mit der anderswo zwischen richtig und falsch unterschieden wird. Wer sich allerdings mehr Haltung vom Filmemacher wünscht, gerade in Anbetracht eines Krieges in Europa, müsste ihn wohl bitten, gar keinen Film zu drehen. Denn das Gewicht der Geschichte stemmt „Luftkrieg“ allemal; das der Gegenwart aber lässt ihn verblassen.

Erschienen auf filmdienst.deLuftkrieg - Die Naturgeschichte der ZerstörungVon: Patrick Holzapfel (23.11.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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