Szene aus Matthias & Maxime
Filmplakat von Matthias & Maxime

Matthias & Maxime

119 min | Drama
Tickets
Szene 1 aus Matthias & Maxime
Szene 2 aus Matthias & Maxime
Szene 3 aus Matthias & Maxime
Matthias und Maxime sind schon seit ihrer Kindheit beste Freunde und können sich gar nicht vorstellen, plötzlich getrennte Wege zu gehen. Doch das Erwachsenwerden bedeutet Veränderung und so zieht es Maxime für längere Zeit nach Australien. In den Tagen vor seiner Abreise ziehen die beiden im Kreis ihrer Freunde von einer Party zur nächsten. Als eine ihrer Freundinnen, eine Filmstudentin, für ihren neuesten Kurzfilm noch zwei Schauspieler sucht, werden Matthias und Maxime kurzerhand und nicht ganz gegen ihren Willen engagiert. Der Knackpunkt des Ganzen? Die beiden Freunde müssen sich vor der Kamera küssen und dies bringt plötzlich alles ins Wanken. Ungeahnte und unterdrückte Gefühle erwachen, die die beiden vor Entscheidungen und Herausforderungen stellen, die unüberwindbar scheinen. Denn während Matthias sich krampfhaft gegen seine Gefühle zu wehren versucht, wächst in Maxime mehr und mehr der Wunsch, Matthias noch näher zu kommen, bevor sie der Ozean endgültig trennt. Gibt es für die beiden doch noch ein Happy End?
  • RegieXavier Dolan
  • ProduktionKanada, Frankreich
  • Dauer119 Minuten
  • GenreDrama
  • Empfehlung der Jugendfilmjury
    14 - 99

Filmkritik

In routinierter Vertrautheit joggen zwei junge Männer auf dem Laufband im Fitnessstudio nebeneinander her. Ihre Körper bewegen sich schnell und schwitzen, dennoch sind sie ins Gespräch vertieft; sie planen ein gemeinsames Wochenende. Wenn sie gelegentlich dabei von sich im Plural sprechen, scheint eine beiläufige Intimität zwischen ihnen auf. „Wir“, das sind Matthias (Gabriel D’Almeida Freitas) und Maxime (Xavier Dolan), gemeinsam aufgewachsen und seit einer gefühlten Ewigkeit miteinander befreundet. Doch die verlängerte Adoleszenz, in der sich die Endzwanziger befinden, drängt auf einen Abschied hin. Matthias Freundin Sarah besucht lieber eine Babyparty, anstatt die beiden auf ihrem geplanten Kurzurlaub zu begleiten, und Maxime selbst steht unmittelbar vor dem Aufbruch zum „Work & Travel“ in Australien.

Als sie nach dem Training gemeinsam im Auto sitzen, fällt der Blick der Kamera lange auf eine Werbeanzeige am Straßenrand. „Das Brot der heiligen Familie“ ist darauf als Markenname zu lesen, zwei Kinder präsentieren sich mit ihren Eltern auf einer Picknickdecke im Grünen voller Toastscheiben, deren Künstlichkeit sich in der Starre der lachenden Gesichter widerspiegelt. Maxime taxiert jedes Detail dieser imaginären Familienchoreografie, bevor er mit Abscheu seine Zigarette auf die Straße fallen lässt, die Dolan in Großaufnahme zeigt.

Die Lebensrealität der jungen Männer sieht deutlich anders aus als dieses fragwürdige gesellschaftliche Versprechen. Beide sind Söhne alleinerziehender Mütter, die ihnen Eigenständigkeit und Ablösung verunmöglichen, wie bald deutlich wird. Wenn die Kamera zum vielsagenden Titelsong „Looking for Knives" freischwebend über die zwei Mittelstreifen einer Landstraße rast, ersehnt sie eine Bewegung ins Offene ebenso wie eine ungreifbare Männlichkeit.

Beiläufige Berührungen

Mit ihrem erweiterten Freundeskreis ziehen sich Matthias und Maxime in ein entlegenes Ferienhaus zurück, trinken und rauchen, stimmen in das Grölen der anderen Jungs mit ein, die sich gegenseitig hochnehmen und gegenseitig rempeln. Die ausgelassene Atmosphäre bringt eine Körperlichkeit mit sich, die alltäglich ist, durch die genaue Beobachtung der Kamera hier auch in ihrer Homoerotik zu Tage tritt.

Ein Störelement wird durch die kleine Schwester des Gastgebers Rivette (Pier-Luc Funk) in den Abend gebracht, die nach zwei Protagonisten für ihren Studentenfilm sucht. Nur Maxime meldet sich freiwillig, und durch eine verlorene Wette muss sich Matthias an seine Seite begeben. Dass ihr gemeinsamer Kurzauftritt eine Kussszene beinhaltet, setzt beide unter Schock, während die anderen Jungs eher belustigt reagieren. Immerhin hat Matthias während der Schulzeit schon einmal Maxime geküsst, als sie beim Feiern gemeinsam mit Drogen experimentierten. Es scheinen sich keine besonderen Schlüsse daraus aufzudrängen, doch Matthias kontrolliertes und aufgeräumtes Auftreten zeigt sichtliche Erschütterungen.

Die studentische Kamera verdeckt den entscheidenden Moment der Berührung und lässt sie so zu einem blinden Fleck werden, der im Unterbewusstsein beider Männer weiterwirkt. Während Matthias am nächsten Morgen desorientiert in einen See springt und wie um sein Leben gegen das dunkle Wasser anschwimmt, das ihn trägt und umgibt, wehrt der sensible Maxime das Geschehene nicht ab. Ein überdimensionales Muttermal, das eine seiner Gesichtshälften fast völlig bedeckt, markiert ihn von Beginn an fast überdeutlich als einen Verwundeten, der sich seiner Verletzbarkeit nicht schämt.

Mütterliche Macht und abwesende Väter

Dolan inszeniert ihn als einen co-abhängigen Sohn, der die Vormundschaft seiner psychisch kranken Mutter übernommen hat und vergeblich damit ringt, ihren Zustand durch eine Umkehrung des Sorgeverhältnisses zu verbessern. Anders als in seinen Vorgängerfilmen „I killed my Mother“ und „Mommy“, in denen Anne Dorval wie auch hier die Rolle der Mutter übernimmt, ästhetisiert Dolan diesmal die Figuren kaum und verzichtet zugunsten der Präzision auf Exaltiertheit. Wenn Maxime im Hinterzimmer der Bar, in der er arbeitet, auf seine blutende Platzwunde am Kopf angesprochen wird, bemerkt er, wie so viele Opfer familiärer Gewalt nur knapp, dass er gestürzt sei. Seine Entscheidung, nach Australien zu gehen und keine Heimreise an Weihnachten einzuplanen, strukturiert auch die Erzählabschnitte des Films.

Matthias wiederum scheint auf dem besten Wege in ein konformes Erwachsenenleben zu sein, das sich mit einer Beförderung in seiner Anwaltskanzlei ankündigt. Der endgültige Einstieg in die Domäne von Anzug- und Krawattenträgern verunsichert ihn jedoch. In einem Meeting wirkt die unternehmerische Wortwahl seines Vorgesetzten plötzlich unangenehm sexualisiert, wenn vom Aufzäumen des Pferdes von hinten und einer Übernahme durch Verführung die Rede ist. Der junge Kollege Kevin McAfee (Harris Dickinson), auf den Matthias angesetzt wird, präsentiert sich als Pet Shop Boys hörender Popper, der aus Frauen- und Fremdenhass keinen Hehl macht, stolz die Ringe seines Vaters präsentiert und gleichzeitig lächelnd von seiner Verlobung berichtet. Die verleugnete und ebenso deutlich ausgestellte Homosexualität des Männerbündischen irritiert Matthias und bleibt ihm völlig fremd.

Die auflösende Kraft der Nähe

Je näher Maximes Abflugtag rückt, umso mehr verstrickt sich sein Freund in unartikulierte Gefühle, die er durch eine betonte Gleichgültigkeit unterdrückt, bis sie in den unpassendsten Situationen aus ihm hervorbrechen. Dolan inszeniert die Intimität zwischen den Freunden mit berührender, aber auch subtiler Genauigkeit. Anders als in früheren Arbeiten konzentriert er sich dabei weniger auf eine artifizielle Bildsprache, wie sie die von ihm so geliebte Musikvideo-Ästhetik der 1990er-Jahre mit sich brachte. Stattdessen arbeitet er die gestische Ebene zwischen den Protagonisten heraus, um die Vielschichtigkeit ihrer Gefühle durch Blicke und Körperhaltungen erfahrbar zu machen.

Die Eigenheit von Dolans achter Regiearbeit liegt darin, dass der Film gerade nicht das Drama eines Coming Outs erzählt, sondern von etwas viel Radikalerem handelt: den facettenreichen Formen der Homosexualität, wie sie in alle gleichgeschlechtlichen Beziehungen hineinspielt und trotz ihrer Alltäglichkeit als solche meist verdrängt wird. Dolan zeigt ein Milieu junger Menschen, für die eine solche Erfahrung als „Queerness“ einerseits immer selbstverständlicher wird, macht jedoch auch klar, dass die überwältigende Kraft der Sexualität Zuschreibungen und Identitäten auflöst und verunsichert. Matthias und Maxime verbindet darüber hinaus eine tiefe Nähe, die damit zusammenhängt, wie beide als Männer ihre Sensibilität und Verletzlichkeit zeigen und diese miteinander teilen können.

Erschienen auf filmdienst.deMatthias & MaximeVon: Silvia Bahl (13.6.2022)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
Über Filmdienst.de Filmdienst.de, seit 1947 aktiv, bietet Filmkritiken, Hintergrundartikel und ein Filmlexikon zu neuen Kinofilmen aber auch Heimkino und Filmkultur. Ursprünglich eine Zeitschrift, ist es seit 2018 digital und wird von der Katholischen Filmkommission für Deutschland betrieben. filmdienst.de