Szene aus Menschliche Dinge
Filmplakat von Menschliche Dinge

Menschliche Dinge

138 min | Drama
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Die Farels sind ein Power-Paar: Jean ist ein prominenter französischer Experte und seine Frau Claire eine Essayistin, die für ihren radikalen Feminismus bekannt ist. Zusammen haben sie einen vorbildlichen Sohn, Alexandre, der Student an einer renommierten amerikanischen Universität ist. Bei einem Kurzbesuch in Paris lernt Alexandre Mila, die Tochter des neuen Partners seiner Mutter, kennen und lädt sie zu einer Party ein. Am nächsten Tag reicht Mila eine Anzeige gegen Alexandre wegen Vergewaltigung, Zerstörung der Familienharmonie und Ingangsetzen einer unentwirrbaren Medien-Gerichtsmaschinerie ein, die gegensätzliche Wahrheiten postuliert.

Filmkritik

Alexandre Farel (Ben Attal) wurde, wie man so sagt, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sein Vater Jean (Pierre Arditi) ist ein bekannter TV-Journalist, während seine Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg) als feministische Publizistin Ruhm erlangt hat. Alexandre selbst hat am Pariser Elite-Gymnasium Henri 4 sein Abitur abgelegt und studiert nun an der renommierten Stanford-Universität in Kalifornien. Der junge Mann erfüllt alle Erwartungen, die in ihn gelegt wurden, und seiner brillanten Zukunft scheint nichts im Wege zu stehen. Doch dann kommt alles anders, und es ist bis zum Schluss nicht klar, ob er schuldig ist oder nicht.

Dabei war Alexandre eigentlich nur auf eine Stippvisite nach Paris gekommen. Sein Vater sollte mit der Ehrenlegion, Frankreichs Verdienstorden, ausgezeichnet werden, und Alexandre war dafür extra aus den USA eingeflogen. Am Abend vor der geplanten Zeremonie besuchte er seine Mutter Claire und ihren neuen Lebensgefährten Adam Wizman (Mathieu Kassovitz) und nahm spontan dessen Tochter Mila (Suzanne Jouannet) auf eine Alumni-Party mit. Am nächsten Morgen wird Alexandre von der Polizei in Untersuchungshaft genommen. Mila hat ihn angezeigt. Die Anklage lautet: Vergewaltigung. Während er noch nicht recht begreift, wie ihm geschieht, schlägt die Affäre hohe Wellen. Die sozialen Medien wettern gegen seine berühmten Eltern, nicht zuletzt gegen Claire, die sich beim Thema Vergewaltigung stets für Frauen engagiert hat.

Täter oder Opfer einer Intrige?

Alexandre selbst fühlt sich als Opfer einer Intrige und denkt, dass Mila sich an ihm rächen will. Doch dann wechselt die Perspektive und man sieht den Abend nach der Party aus Milas Sicht – wie sie verstört ein Taxi nimmt, in der Wohnung ihrer jüdisch-orthodoxen Mutter ankommt und mit ihr am nächsten Tag zur Polizei geht und Anzeige erstattet.

So schildert der Film auch, wie technisch und bürokratisch dieser Vorgang ist und wie sehr die Emotionen der ganz offensichtlich verstörten Gymnasiastin als Hindernis angesehen werden. Gleichzeitig stellt die Anklage die ganze Familiensituation von Alexandre und Mila auf den Kopf. Die geschiedenen oder getrennten Ehepartner rücken wieder näher zusammen. Die Beziehung zwischen Claire, der Mutter des Angeklagten, und Adam, dem Vater der Klägerin, zerbricht dagegen erwartungsgemäß.

Milieu-Unterschiede treten zu Tage

Nahm sich der Film viel Zeit, vor allem Alexandres Lebensumstände zu skizzieren, darunter auch ein Treffen mit einer Ex, wird in der zweiten Hälfte der Gerichtsprozess aufgerollt. Dadurch entsteht ein leichtes Ungleichgewicht, da Alexandre vor der Verhandlung mehr Leinwandzeit erhält als Mila. Die Zuschauer haben ihn als doch recht typischen jungen Mann mit Stärken und Schwächen kennengelernt: Alexandre sieht gut aus, hat etliche Begabungen, darunter auch das Klavierspiel, ist aber auch impulsiv, besitzergreifend und eifersüchtig. Trotz der Scheidung seiner Eltern ist er behütet und ohne materielle Nöte aufgewachsen. Allein die Zeit, die er aufbringen muss, um nach dem Durchqueren der schier endlosen Gänge im riesigen Pariser Appartement seines Vaters der Polizei die Tür zu öffnen, sagt einiges über seine privilegierten Lebensumstände aus.

Er stammt aus einer Familie, die ganz in der Tradition des französischen Laizismus steht. Ganz anders dagegen Milas Mutter, die ein Tichel, die Kopfbedeckung jüdisch-orthodoxer verheirateter Frauen, trägt und sich vor allem darum sorgt, dass ihre Tochter womöglich nach einer Vergewaltigung „keiner mehr haben will“. Diese Herkunft wird Mila von Alexandres Vater, einem unverbesserlichen Macho und Schürzenjäger, später implizit vorgeworfen. Die eine oder andere Stichelei erfolgt von beiden Seiten, aber im Großen und Ganzen benehmen sich beide Seiten erstaunlich zurückhaltend.

Die Grenzen der Rechtsprechung

So schildert der Film die psychische Belastung der Beteiligten – der Kinder und der Eltern – sowie, im Prozessteil, die allgemein bekannte Schwierigkeit, bei dem Vorwurf der Vergewaltigung Recht zu sprechen und dabei gleichzeitig für Gerechtigkeit zu sorgen. Benutzt Yvan Attal in seinem mittlerweile achten Spielfilm als Regisseur in Szenen von psychischer Not seiner Protagonisten auch die Handkamera, ist die Kameraführung beim Prozess weniger verwackelt, aber nicht statisch. Anwälte von Klägerin und Angeklagtem durchschreiten beim Vortrag ihrer eloquenten und analytisch brillanten Reden den Saal, werden aber nicht überhöht. Im Vergleich zu US-amerikanischen Vorbildern des Genres Gerichtsdrama kämpft man hier mit weniger harten Bandagen und geht es weniger spektakulär zu.

Die Frage nach Schuld oder Nichtschuld beschäftigt Juristen und den Film als Ganzes weniger als die Grenzen der Rechtsprechung und die Instrumente der Justiz. Sie bedarf für einen solchen Prozess eindeutiger Beweise, die aber nicht zu beschaffen sind, wenn Aussage gegen Aussage steht. Unterm Strich fällt alles auf die unterschiedlichen familiären Situationen zurück. Der Film dämonisiert niemanden und zeigt durch die unterschiedliche Sozialisation der beiden Hauptakteure auch ihre unterschiedliche Interpretation des Geschehens auf. Hier ein junger Mann, dem nie etwas verwehrt wurde, der sich nimmt, was er braucht, und nur auf ein explizit geäußertes „Nein“ reagieren würde. Dort die junge Frau, die sich von den rigiden Moralvorstellungen ihrer jüdisch-orthodoxen Mutter emanzipieren will, aber doch von diesen geprägt ist und sich entsprechend schwertut, über Sexualität offen zu kommunizieren, weswegen ihre Signale, dass die sexuellen Handlungen von ihr nicht als einvernehmlich angesehen werden, zu niederschwellig bleiben, um bei ihrem alles andere als einfühlsamen Gegenüber durchzudringen. In dieser Pattsituation wird niemandem Genüge getan, und der Film ergreift bis zum Schluss nicht Partei.

Erschienen auf filmdienst.deMenschliche DingeVon: Kira Taszman (4.11.2022)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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