Szene aus Nelly & Nadine
Filmplakat von Nelly & Nadine

Nelly & Nadine

92 min | Documentary | FSK 0
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Inmitten des Konzentrationslagers Ravensbrück ertönt die Stimme der Opernsängerin Nelly. Es ist Weihnachten im Jahr 1944 als Nelly und Nadine sich zum ersten Mal begegnen. Nach der Befreiung finden sie einander wieder und bleiben ihr Leben lang zusammen. Heute stellt sich Nellys Enkelin Sylvie dem in einer Kiste verschlossenen Vermächtnis ihrer Großmutter. In Fotografien, Super-8- und Audioaufnahmen sowie in poetischen und erschütternden Tagebucheinträgen stößt die Enkelin nicht nur auf die Erinnerungen ihrer Großmutter an das KZ, sondern auch auf Zeugnisse eines gemeinsamen Lebens mit Nadine – einer Paarbeziehung, die von der Familie nie als solche benannt wurde. „Nothing is real until it’s socially expressed“, sagt die Historikerin Joan Schenkar im Gespräch mit Sylvie. Über einen Zeitraum von einem Jahr begleitet Magnus Gertten die Enkelin auf ihrer behutsamen Suche und geht dabei den Spuren des Unerzählten nach, die in den unterschiedlichen Quellen zu finden sind. Ein ergreifender Film über eine tiefe lesbische Liebe und über die Notwendigkeit persönlichen und kollektiven Erinnerns.
  • RegieMagnus Gertten
  • Dauer92 Minuten
  • GenreDocumentary
  • AltersfreigabeFSK 0
  • TMDb Rating7/10 (6) Stimmen

Filmkritik

Ständig und überall habe ihre Großmutter Nelly gesungen, erinnert sich ihre Enkelin Sylvie Bianchi, die auf einem Bauernhof in Nordfrankreich wohnt. Sie hat Nellys Aufzeichnungen aus dem Krieg gefunden, die sich als Zeitdokumente von unschätzbarem Wert entpuppen und eine erstaunliche Geschichte offenbaren. Denn die Belgierin Nelly Mousset-Vos, die seit den 1930er-Jahren als Opernsängerin auftrat, wurde während des Zweiten Weltkriegs vor einem ihrer Auftritte verhaftet. Sie war in der Résistance aktiv, flog auf und wurde im Frühjahr 1943 an einen Ort verschleppt, den man nicht mit Singen assoziiert: ins KZ Ravensbrück. Doch selbst dort schaffte es die mutige Frau, ihrer künstlerischen Leidenschaft nachzugehen.

In dem berüchtigten Konzentrationslager für Frauen, in dem das Sterben durch Zwangsarbeit, Krankheit und Ermordungen an der Tagesordnung war, geschah Nelly etwas Außergewöhnliches: Sie verliebte sich. Und ihre Liebe wurde erwidert. Die Frau hieß Nadine Hwang, war die Tochter eines chinesischen Diplomaten und 1944 nach Ravensbrück deportiert worden. Der Dokumentarfilm „Nelly & Nadine“ von dem schwedischen Regisseur Magnus Gertten erzählt die Liebesgeschichte der beiden Frauen – von ihrem Leidensweg im KZ, ihrem Überleben und schließlich ihrem gemeinsamen Leben nach dem Krieg bis zu ihrem Tod.

Mit Mut und unendlicher Geduld

Es ist eine außerordentliche und berührende Geschichte über zwei bemerkenswerte Frauen, die Zeit ihres Lebens Mut und Geduld beweisen mussten und sich in den dunkelsten Stunden gegenseitig Kraft gaben. Ziemlich zu Beginn des Films sieht man Archivaufnahmen von Überlebenden des KZs Ravensbrück, die im Frühling 1945 im Hafen von Malmö warten, um in Schweden zu einer Kur zu fahren. Es sind aufwühlende Bilder junger Frauen, die das Schlimmste überstanden haben und ihr Leben nun doch wider Erwarten vor sich haben. Von einigen erfährt man etwas über ihren weiteren Lebensweg. Schließlich wird auch Nadine eingeblendet, die skeptisch in die Kamera blickt. Zu dem Zeitpunkt lebte sie in ständiger Sorge um Nelly, die ins KZ Mauthausen deportiert worden war. Erst viele Monate später fanden die Frauen wieder zusammen.

Der Film oszilliert zwischen der Vergangenheit und einer Gegenwart, in der Nellys Enkelin Sylvie Bianchi und ihre Schwester die Dokumente aus dem Nachlass ihrer Großmutter lesen, die 1987 in Frankreich verstarb. Bianchi hatte Nellys KZ-Tagebücher jahrzehntelang in einer Kiste aufbewahrt, es aber nicht gewagt, sie zu öffnen. Als sie es schließlich vor der Kamera tut, reagiert sie emotional, schildern die Zeugnisse doch sehr plastisch, wie Nelly dem grausamen Alltag des Lagerlebens trotzte.

Während Ausschnitte aus dem Tagebuch vorgelesen werden, sieht man Schwarz-weiß-Bilder unversehrter Landschaften. Sie stammen aus dem Dokumentarfilm „Symphonie Paysanne“ des belgischen Filmpioniers Henri Storck und wurden im von der Wehrmacht besetzten Belgien gedreht. Darüber entsteht ein zwiespältiges Gefühl, denn die Poesie von Nellys Worten, gepaart mit Bildern von klaren Himmeln, Feldern und Ähren, die sich im Wind wiegen, kontrastiert stark mit dem Geschilderten: Zwangsarbeit auf Feldern und im Steinbruch, ständiger Hunger, Erschöpfung und die Angst davor, zusammenzubrechen, was den sicheren Tod bedeutet hätte.

Weihnachtslieder im KZ

In Mauthausen spricht Nelly in ihrem Tagebuch explizit die abwesende Nadine an, fragt sie, wo sie sei, bangt, ob sie noch lebe. Lieben gelernt hatten sich die beiden, als Nelly Weihnachten 1944 in der französischen Baracke von Ravensbrück zuerst Weihnachtslieder, dann eine Arie aus „Madame Butterfly“ vortrug, und ihre Liebe zur Musik auch an jenem unmenschlichen Ort weiterlebte.

Nelly wollte die Tagebücher nach dem Krieg veröffentlichen, doch kein Verleger war dazu bereit. Offenbar stieß man sich daran, dass eine lesbische Liebe hier sehr natürlich in die Aufzeichnungen mit einfließt. Auch Nellys Tochter wollte die Beziehung ihrer Mutter zu Nadine nicht recht akzeptieren. Das Paar zog einige Jahre nach dem Krieg nach Venezuela, baute sich dort ein neues Leben auf und erhielt auch Besuch von Nellys Enkelinnen. Offiziell gaben sich die beiden Frauen als Kusinen aus, doch Bekannte und Freunde wussten, dass sie in einer Liebesbeziehung lebten.

Nadines Leidenschaft war das Filmen, und so sieht man Home-Videos von den beiden in Caracas, in der sonnendurchfluteten Landschaft vor den Bergen, in ihrer gemeinsamen Wohnung, beim Essen, Spazierengehen und Feiern mit einem befreundeten schwulen Paar.

Vor allem Nelly ist in diesen bewegten Bildern zu sehen – in damals moderner Farbe. Sie achtete spürbar auf ihr Äußeres, trug stets schicke Kleider und wirkte fröhlich. Doch es gibt auch Momente, in denen ihr eine tiefe Melancholie anzumerken ist. Man kann nur erahnen, wie die beiden Frauen auch in der Freiheit von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager noch heimgesucht wurden. Zwei lange Jahre war Nelly in den KZs interniert. Doch sie habe sich nie beschwert, sagt Enkelin Bianchi.

Ein Glücksfall für alle

Auch die Lebensgeschichte von Nadine vor dem Krieg wird aufgerollt und mit Archivmaterial bebildert: Sie war die Chauffeurin und Geliebte der Betreiberin eines literarischen Salons in Paris. Im Mai 1944 wurde sie verhaftet und deportiert, wahrscheinlich, weil sie Menschen half, über die Pyrenäen nach Spanien zu flüchten.

In den frühen 1970er-Jahren kehren die beiden nach Europa zurück. Dort starb Nadine im Jahr 1972. Nelly, die wieder viel Kontakt zu ihrer Familie hatte, aber nicht über den Krieg sprach, überlebte sie um 15 Jahre.

Dass so viele verschiedene Medien von der Beziehung der beiden Frauen zeugen, ist ein Glücksfall, und wohl auch ein Grund für diesen Film. Außerdem zeigt er anhand der Suche von Nellys Enkelinnen und Interviews von Nachkommen ihrer Freunde in Venezuela, wie das Schicksal des Paars auch etliche Jahrzehnte später die nachfolgenden Generationen beeinflusst. Man kann sich nur freuen, dass die heutige Zeit endlich reif ist für eine unzensierte Schilderung der Liebesgeschichte der beiden Frauen. Der Dokumentarfilm tut dies und setzt Nelly und Nadine ein würdiges Denkmal.

Erschienen auf filmdienst.deNelly & NadineVon: Kira Taszman (7.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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