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Filmkritik
Das hat sich der Schornsteinfeger (Jan Gunnar Røise) anders vorgestellt. Nachdem der eigentlich heterosexuelle Mittvierziger mit einem männlichen Kunden spontan Sex hatte, erzählt er seinem verdutzten Vorgesetzten und Freund (Thorbjørn Harr) davon am nächsten Tag betont unaufgeregt. Seine Frau wisse bereits von dem kleinen Seitensprung und hätte damit auch kein Problem, weil es ja nur Sex gewesen wäre und somit nichts zu bedeuten hätte.
Als der Schornsteinfeger jedoch nach Hause kommt, muss er feststellen, dass seine Frau (Siri Forberg) die Sache deutlich schlechter aufgenommen hat als zunächst angenommen. Den Tränen nahe, stellt sie gleich die gesamte Beziehung in Frage und beginnt ihren Mann zu meiden. Was im Film „Oslo Stories: Sehnsucht“ folgt, ist ein langer gemeinsamer Verarbeitungsprozess, bei dem es schnell um Grundsätzliches geht. Etwa um die Frage, wie man überhaupt Intimität definiert, ob man Sex und Liebe wirklich getrennt betrachten kann und inwieweit man in einer Beziehung seinem Partner gehört.
Die therapeutische Wirkung des gesprochenen Worts
Der norwegische Regisseur Dag Johan Haugerud widmet sich in seiner „Oslo-Trilogie“ den unterschiedlichen, oft auch ins Psychologische und Soziale reichenden Facetten von Liebe und Sexualität. Was die Filme, unter denen sich auch der Berlinale-Gewinner „Träume“ befindet, vereint, ist ihr tiefer Glaube an die therapeutische Wirkung des gesprochenen Worts. Die vielleicht gar nicht so utopische Vorstellung des so einfühlsam wie bedächtig erzählten Films lässt sich in etwa so auf den Punkt bringen: Man muss nur möglichst ruhig, offen und verständnisvoll miteinander reden, um ein besseres und freieres Leben möglich zu machen.
Regelmäßig zeigt „Sehnsucht“ Bilder von Oslo, in denen Baustellen und Kräne zu sehen sind. Präsentiert wird eine geordnete Stadt mit minimalistischer Architektur, die jedoch nie fertig ist. Und auch die Arbeit an unseren Beziehungen wie auch an uns selbst, so scheint der Film nahelegen zu wollen, ist nie ganz abgeschlossen. „Sex“, wie der Film im norwegischen Original heißt, ist dabei nur der Ausgangspunkt für eine genauere Betrachtung unseres gesellschaftlichen Lebens. Es geht darum, wie einengend tradierte Vorstellungen von Männlichkeit sein können, aber auch um die Herausforderung, im Leben die richtige Balance zwischen Selbstentfaltung und Rücksicht zu finden.
Der Schornsteinfeger und sein Vorgesetzter sind zwei Seiten einer Medaille. Ersterer scheint mit seiner Männlichkeit und seinem sexuellen Experiment völlig im Reinen zu sein, blendet dabei jedoch die soziale Dimension seines Handelns aus. Er ist so auf sich selbst fokussiert, dass er sichtlich überrascht wirkt, dass das Leben seiner Frau durch sein Geständnis aus den Fugen gerät.
Wiederkehrender Traum mit David Bowie
Der Vorgesetzte wiederum neigt dazu, gesellschaftliche Erwartungen überzubewerten und damit seine eigene Freiheit zu beschneiden. Ein wiederkehrender Traum, in dem ihn Rockstar David Bowie mit gierigem Blick „wie eine Frau“ ansieht, verunsichert ihn zutiefst. Auf einmal meint er, seine Stimme würde höher klingen, und beginnt auch sonst, sein Leben zu hinterfragen. Eine Sprachpädagogin vermutet eine psychische Blockade und empfiehlt ihm die Lektüre von Hannah Arendt. Der geschmeidig melancholisch vor sich hin plätschernde Jazz-Soundtrack scheint mit seinen zwischenzeitlich verspielt expressiven Passagen sagen zu wollen: In jedem von uns schlummert noch verstecktes Potenzial.
Ein Mann, der einen schwulen Seitensprung hatte, aber darauf beharrt, dass es ein einmaliges Erlebnis war und sich auch weiterhin als strikt heterosexuell versteht, das klingt, wie auch einige weitere Verdichtungen des Films, ein wenig ausgedacht. Auch sonst könnte man meinen, „Sehnsucht“ würde seine Figuren vor allem als Träger für gesellschaftliche Diskurse verstehen. Nie sind etwa die Namen der beiden Männer zu erfahren, und die langen Sequenzen mit stimmungsvollen Stadtimpressionen vermitteln, dass diese Geschichte nur beispielhaft für viele andere stehen könnte, die sich hier im Verborgenen abspielen.
Sie können gut zuhören
„Sehnsucht“ gelingt es aber zugleich, seine Protagonisten durch zurückgenommenes Schauspiel und nuancierte Dialoge höchst individuell zu gestalten. Den Ängsten und Zweifeln seiner Figuren gibt Haugerud viel Raum und inszeniert ihre Krisen dabei doch auffällig leichtfüßig. Die Menschen im Film sind zugewandt, geduldig und verständnisvoll. Sie können gut zuhören, nehmen sich Problemen lieber an, als sie zu verdrängen, und sind auch im Alter noch bereit, sich zu verändern. Manchmal wirkt die offensive Sanftheit und therapeutische Hartnäckigkeit des Films fast ein wenig zu vorbildlich.
Wenn das Schornsteinfeger-Leben vor allem aus entspannten Pausen über den Dächern Oslos besteht und sich eine Ärztin unbegrenzt Zeit nimmt, um sich gleich noch all den anderen Problemen ihrer Patienten zu widmen, ähnelt „Sehnsucht“ mehr einer humanistischen Fantasie als der Wirklichkeit. Haugeruds nicht aus der Ruhe zu bringende Erzählweise wirkt wie ein radikaler Gegenentwurf zu einer Gegenwart, die oft von Erregung und Empörung geprägt ist. Die Geschichte von „Sehnsucht“ braucht weder Eskalationen noch dramatische Wendungen. Sie begnügt sich mit der Vielschichtigkeit des Alltags und der Hoffnung, dass der Mensch nie aufhört, dazuzulernen.