Szene aus Schleimkeim – Otze und die DDR von unten
Filmplakat von Schleimkeim – Otze und die DDR von unten

Schleimkeim – Otze und die DDR von unten

97 min | Dokumentarfilm | FSK 12
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Schleimkeim — eine Punkband, die die Subkultur in der DDR verwirklichte. Diese Band der 80er? und frühen 90er?Jahre war bunt, laut und vor allem: sie beugte sich nicht dem System. Damit beschäftigte sich Regisseur Jan Heck, als er den Werdegang der Band von ihrem Aufblühen bis zu ihrem Ende filmisch nachvollzog. Mit dem Fokus auf Frontmann Dieter „Otze“ Ehrlich durchschreitet SCHLEIMKEIM mehrere Bedeutungsebenen. Durch Zeitdokumente und Interviews mit verbliebenen Bandmitgliedern und Angehörigen entsteht eine dokumentarische Collage, welche Musik erfahrbar und den Preis der Freiheit sichtbar macht.

Filmkritik

Über die DDR-Subkultur ist schon viel nachgedacht und veröffentlicht worden. Es gab und gibt Bücher, Ausstellungen und Symposien sowie viele Veröffentlichungen von Texten, Filmen und Musiken, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens nur einer extrem kleinen Klientel zugänglich waren. Und doch bleibt immer noch Neues zu entdecken – vor allem, wenn die Herangehensweise ungewöhnlich und erfrischend ausfällt. Jüngstes Beispiel: der Dokumentarfilm „Schleimkeim - Otze und die DDR von unten“ von Jan Heck.

Es ist kaum zu glauben, dass es dem 1991 südlich von Tübingen geborenen Regisseur gelang, dem Nischenthema „Ost-Punk“ so erhellende Aspekte abzugewinnen. Vielleicht ist es ja gerade der unverstellte Blick auf dieses halbe Land namens DDR, der dies möglich machte. Der Filmemacher war in seiner schwäbischen Jugend selbst ein (historisch spätberufener) Provinz-Punk. Er bekennt: „Mit 14 war Punk auf dem Dorf das Beste, was mir hatte passieren können. Punk vereinte alles, was mich begeisterte: Krach, Kunst, Rebellion, bisschen Politik, Lyrik, Weisheit und Schwachsinn.“

DDR-Punker lebten gefährlich

In den Musikern der im thüringischen Dorf Stotternheim, wenige Kilometer nördlich von Erfurt, im Jahr 1980 gegründeten Band „Schleim-Keim“ fand er Seelenverwandte. Und bei der Beschäftigung stellte er aber bald fest, dass es im Vergleich zwischen Ost und West entscheidende Unterschiede gab. Während in der Bundesrepublik das selbstgewählte Außenseitertum oft kleinbürgerliche Rückzugsorte bereithielt, handelte es sich im „Arbeiter- und Bauernstaat“ um eine wahrhaft existentielle Entscheidung, mit einem Irokesenschnitt und in zerrissener Kleidung vor die Haustür zu treten. Heck: „Die DDR war ein politisches System, welches Menschen, die nicht in das systemtreue Weltbild gepasst haben, auf eine absolut grausame und inhumane Weise behandelt hat. Wenn man in der DDR Punk war, hat man sich automatisch in Gefahr begeben.“ Genau davon handelt der Film.

Das Schicksal von „Schleim-Keim“ und seinem Gründer Dieter Ehrlich wartet mit Tragödien und Wendungen von Shakespeare’scher Dimension auf. Ihre Geschichte kennt kein Happy End. Die Verhältnisse im deutschen Osten boten keinen Ausweg zu einer erlösenden Katharsis. Stattdessen taumelten die DDR-Punks zwischen Ekstase, Selbstzerstörung, Verrat, Willkür, Krankheit und Tod. Der Film schafft es dennoch, die völlig desolate „Laufbahn“ von Dieter Ehrlich vital und kurzweilig zu erzählen. Überraschenderweise wird im Gespräch mit den Wegbegleitern viel gelacht. Und am Ende beweist ein Konzertmitschnitt, dass die Texte und die ruppige Musik auch heute noch ihre authentischen Energien entfalten und jungen Menschen durchaus etwas zu sagen haben. Es bewahrheitet sich: „Punk is not dead!“

„Anarchy Is Calling“ & Bullenterror

Der tragisch endende Held dieser wahren Geschichte nannte sich selbst „O.T.Z.E.“ - eine wortspielerische Abkürzung, in der die ironische Formel „ordentlich, treu, zuverlässig, ehrlich“ verborgen liegt. Seine Band ging aus einer Gruppe von Schulfreunden hervor, zu der Dieters jüngerer Bruder Klaus hinzukam. Geprobt wurde im Stall des Familienhofes. Auf gefundenen oder selbstgebastelten Instrumenten (Kochtöpfe als Schlagzeug, die elektrische Gitarre mit Bowdenzügen einer Fahrrad-Bremse) entstand schnell eine Handvoll von Songs mit knappen, knackigen Texten, die bei Auftritten mehrfach vorgetragen wurden – das Repertoire war einfach zu klein. Und die Texte konnten wegen der miserablen Verstärker und Lautsprecher ohnehin schlecht verstanden werden. Ungeladene Zuhörer notierten jedoch beflissen, was sie da sahen und hörten. Titel wie „Anarchy Is Calling“ oder „Bullenterror“ sprachen für sich. Einer der Songs hieß „Wehrt euch gegen die, die euch verraten!“.

An dieser Stelle der Geschichte kommt Alexander Anderson ins Spiel, der sich „Sascha“ nannte, für seine Spitzeldienste die Pseudonyme „David Menzer“, „Fritz Müller“ und „Peters“ wählte und deshalb von Wolf Biermann 1991 vor laufender Kamera „Sascha Arschloch“ tituliert wurde. „Schleim-Keim“ waren wahrhaftige Dorf-Punks, die sich vom eloquenten Underground-Manager leicht um den Finger wickeln ließen. Seinem Verrat waren sie nicht gewachsen. Als Anarchisten war es ihnen außerdem völlig egal, welche Konsequenzen die Veröffentlichung einer LP mit ihrer Musik im Westen nach sich ziehen könnte. Sie stimmten dem Plan zu, auf der geplanten Scheibe namens „DDR von unten“ die B-Seite zu bespielen. Auf der A-Seite wurde die artifizielle Formation „Zwitschermaschine“ präsentiert: eine Gruppe um die Künstler Cornelia Schleime und Ralf Kerbach, mit Anderson selbst am Mikrophon. „Schleim-Keim“ – auf der Plattenhülle als „Saukerle“ angekündigt – wurden zum „Bauernopfer“ für ein Selbstdarstellungsprojekt von Anderson, der damit auch seinen Übertritt von Ost- nach West-Berlin sekundieren wollte.

Für Otze kam die Wende zu spät

Nach der Veröffentlichung der Platte im Mai 1983 wurden die Jungs um Otze umgehend verhaftet. Für den Bandleader folgte eine Odyssee durch Verhörzimmer und Gefängniszellen, in deren Rahmen er sich zeitweilig als IM „Richard“ verpflichten ließ. Kurze Zeit später stieg er durch Unzuverlässigkeit und Dekonspiration aus dem Pakt aus, war innerlich aber gebrochen. Seine Trinkgelage wurden immer ausufernder. Er beschäftigte sich mit mythischen Abgründen und kam der Wirklichkeit mehr und mehr abhanden. Die Revolution von 1989 kam für ihn zu spät. Sie brachte ihm keine innere Befreiung. Die frisch gewonnene Freiheit reduzierte sich für ihn auf den leicht gewordenen Zugang zu immer härteren Drogen. 1999 erschlug er seinen verhassten Vater und landete in der Psychiatrie. Dort verstarb er 2005 an einem Herzinfarkt.

Erschienen auf filmdienst.deSchleimkeim – Otze und die DDR von untenVon: Claus Löser (13.3.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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