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Filmkritik
Es ist etwas mehr als ein Jahr her, dass „die Sache“ passiert ist, als Agnes (Eva Victor) im Gerichtssaal sitzt. Die Staatsanwältin hat Fragen. Als sie wissen will, ob jemand Opfer eines Verbrechens geworden sei, geht Agnes’ Hand so schnell in die Höhe, wie sie wieder fällt. Agnes will ehrlich sein, merkt aber sofort, dass sie absolut nicht über das sprechen möchte, was ihr widerfahren ist. Schon gar nicht vor Fremden. Tatsächlich wäre es ihr schlimmster Albtraum, beschreiben zu müssen, was geschehen ist. Vielleicht würde sie dadurch ja in Schwierigkeiten geraten, wenn sie ausspräche, was sie bislang nicht laut ausgesprochen hat. „Warum sollten Sie in Schwierigkeiten geraten, wenn sie das Opfer sind?“, lautet die Frage, die die Staatsanwältin und der Film „Sorry, Baby“ in den Raum stellen.
Davon und danach
Die Sachlage ist dabei so klar wie Agnes’ moralische Haltung dazu. Sie ist das Opfer, ihr wurde Unrecht getan. Unklar aber ist, was daraus folgt, wie sie sich fühlt, was das Gesetz darüber denkt und wie ihr Leben danach funktionieren soll. „Sorry, Baby“ lebt mit diesen Uneindeutigkeiten und dem Riss, den ein sexueller Übergriff in Agnes’ Leben hinterlassen hat. Das dazugehörige Erleben könnte man Limbo nennen, doch zu oft erscheint Agnes gelöst und fröhlich, um diese Definition zu rechtfertigen. Soll man es eher Stillstand nennen? Immerhin wohnt Agnes noch immer in demselben Haus, das sie schon während des Studiums im ländlichen Massachusetts mit ihrer besten Freundin teilte, und tatsächlich ist sie noch immer an der Uni angestellt, an der auch Preston Decker (Louis Cancelmi) lehrt, der Mann, der sexuell übergriffig wurde.
Allerdings, und vielleicht bricht das mit dem Stillstand, ist sie jetzt keine Doktorandin mehr, sondern Professorin. Aus dem Jurorinnen-Sessel des Gerichts aber ist sie fürs Erste entlassen. Das Urteil kommt vom Richter, der empathisch und zugleich mit erhobener Augenbraue zugehört hat: Agnes ist entschuldigt. Das Leben, in das sie zurückkehren darf, aber bleibt kompliziert.
Das Spielfilmdebüt von Eva Victor ist nicht kompliziert im Sinne seiner Erzählstruktur. Kompliziert ist auch nicht die Sachlage, sondern die Hauptfigur. Agnes ist im besten Sinne zu clever für ihr eigenes Wohl. Viele der institutionellen Notwendigkeiten, die sie durchlaufen muss, um nach der Missbrauchstat wieder in ihr Leben zurückzufinden, durchläuft sie so überlegt, dass der vorgesehene Rahmen schon zu Gesprächsbeginn gesprengt wird. Nicht nur dort, wo sie ihr Geschlecht auf dem Fragebogen des Gerichts als Spektrum innerhalb einer selbstgezogenen Linie angibt, die bei „weiblich“ anfängt und zwischen den eigentlich geforderten Bezeichnungen „weiblich“ und „männlich“ endet. Oft haben ihre Gegenüber, ob Arzt, Studienleiterin oder Staatsanwältin, schlicht nicht weit genug gedacht, um ihr folgen oder helfen zu können – und wussten überdies ihrem schwarzen Humor kaum etwas entgegenzusetzen.
Eine Katze von der Straße
Wer zu clever ist, kommt manchmal nicht umhin, etwas vom Weg abzuweichen, unnötige Namen wie Susan Sontag, Ted Hughes, James Baldwin und Vladimir Nabokov fallen zu lassen oder die eine oder andere moralisch-didaktische Spitze zu setzen. Etwa wenn Agnes das allzu offene Fenster ihres Badezimmers mit der von ihrem ehemaligen Professor korrigierten Fassung ihrer Abschlussarbeit abdichtet, um diese dort wieder abzunehmen, wo die akademische Karriere ihr Leben neu anzuschieben scheint. Am ehesten aber sind Agnes und auch der Film schlicht zu verkopft, um einfache Heilmittel für tiefe seelische Wunden zu suchen.
Unkompliziert ist das Leben nur dort, wo Lydie (Naomi Ackie) der Literaturwissenschaftlerin zur Seite steht. Agnes’ beste Freundin versteht als einzige, dass es, wenn es schon keinen richtigen Weg gibt, mit einer solchen Situation umzugehen, auf der anderen Seite auch keinen falschen Weg gibt. Etwa: Plötzlich zum Nachbarn rennen und um Feuerzeugbenzin bitten, um vielleicht etwas anzuzünden. Oder: Eine Katze auf der Straße auflesen und mit nach Hause nehmen. Lydie ist da, ohne sich anzumaßen, Agnes verstehen zu können oder sie irgendwohin delegieren zu wollen. Sie ist schlicht da, mit entschlossener Zärtlichkeit.
Doch so toll Lydie ist, so inadäquat ist der Rest der Welt. Nicht auf die brutal-eindeutige Art, die nach einem Label wie „patriarchal“ schreien würde, sondern allzu oft auf die unnuancierte, unempathische Art. Agnes empfindet das weniger als Anstößigkeit denn als pure Absurdität. Ihr tonloses „What?“ ist allzu oft der passende Kommentar, wenn der Arzt sich empört, dass der Vaginalabstrich nicht mehr gerichtlich relevant sei, oder die Studienleitung ein hilfloses und deplatziertes „Wir sind Frauen“ als versuchte Solidarität in den Raum stellt.
Das beste Sandwich des Jahres
„Sorry, Baby“ ist voll von diesen kleinen, wunderbar schrägen und manchmal auch schlicht wunderbaren Momenten. Als eine Panikattacke Agnes zwingt, ihr Auto vor einem Bistro anzuhalten, entpuppt sich der zunächst pöbelnde Besitzer (John Carroll Lynch) als hilfreiches Mitglied der kleinstädtischen Gesellschaft, der sie mit Hilfe einer Atemtechnik nicht nur aus der Panik lotst, sondern ihr auch noch das beste Sandwich des Jahres und unaufdringliche Lebensweisheit serviert. Eva Victor schafft ihren Figuren Raum und hält ihnen so ziemlich jede tonale Nuance offen.
Wie viel in Agnes’ Leben vergiftet ist, spiegelt sich nicht nur im gesellschaftlichen Umfeld, sondern wahlweise auch dort, wo sie allein ist und die Alltagsgeräusche sie im eigenen Haus plötzlich in einen Horrorfilm hineinzwingen, der erst im Morgengrauen der nächsten unerwarteten Gefühlsregung weicht. Etwa wenn ihr der nicht weniger verschrobene, aber deutlich weniger intellektuelle Nachbar Gavin (Lucas Hedges) ins Auge fällt. Gavin ist gütig und harmlos. Süß ist er auch. Die Filmemacherin Victor verleiht seiner so lakonischen wie sympathisch schlichten Ausdrucksweise eine profunde Tiefe. Der Sex mit ihm beginnt harmlos und unbeholfen. Auch, weil Agnes das braucht. Erst scheint sie ihn in die Arme zu nehmen. Solange, bis er sie irgendwann in seinen Armen hält. Bis der Sex nach einer so sanften wie sichtbaren Verschiebung wieder Spaß macht.
Ähnlich sanft und elegant wie diese Beziehung ist der gesamte Film moduliert. Während Agnes’ Leben zwischen Herbst und Winter gefangen zu sein scheint, bestimmt der Film mit erstaunlichem Feingefühl, wann dies Kälte und Kargheit bedeutet, wann es schön und wann es komisch ist. Eindeutig ist dabei ohnehin nichts; dafür ist die Sache zu kompliziert.
