Szene aus Tanja – Tagebuch einer Guerillera
Filmplakat von Tanja – Tagebuch einer Guerillera

Tanja – Tagebuch einer Guerillera

84 min | Dokumentarfilm | FSK 12
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Szene 1 aus Tanja – Tagebuch einer Guerillera
Die 19-jährige Tanja aus den Niederlanden geht als Au-pair nach Kolumbien und schließt sich dort der Guerilla-Armee FARC an. Sie kämpft gegen Ungerechtigkeit, flieht vor Bombenanschlägen und wird schließlich Teil der FARC-Delegation bei Friedensverhandlungen. Ihr Einsatz trägt zur Beendigung des längsten Bürgerkriegs in Lateinamerikas Geschichte bei und sie erhält den Friedensnobelpreis. Trotzdem wird sie wegen einer Entführung von US-Bürgern von Interpol gesucht. Diese Geschichte zeigt, wie ein junges Mädchen ihre eigenen Grenzen überwindet, um Frieden und Gerechtigkeit zu erreichen.
  • RegieSophie Hyde, Marcel Mettelsiefen, Bryan Mason
  • ProduktionDeutschland, Niederlande
  • Dauer84 Minuten
  • GenreDokumentarfilm
  • AltersfreigabeFSK 12

Filmkritik

Als Tanja Nijmeijer um das Jahr 2000 herum zum ersten Mal nach Kolumbien kam, war sie eine idealistische junge Studentin aus den Niederlanden, die als Lehrerin in einem Dorf jobben wollte, um Land und Leute kennenzulernen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Doch die sozialen Zustände schockierten sie so sehr, dass sie sich vornahm, sich einzubringen und etwas zu ändern.

Nach dem Abschluss ihres Studiums kehrte sie wieder nach Kolumbien zurück, nahm Kontakt zur sozialrevolutionären Guerilla-Organisation FARC auf und schloss sich dem bewaffneten Kampf an. 2003 trat sie als FARC-Dolmetscherin in Erscheinung. 2007 entkam sie knapp dem Angriff auf ein Rebellen-Camp; dabei wurden ihre Tagebücher beschlagnahmt, die später veröffentlicht wurden. Ab 2012 nahm Nijmeijer als Mitglied der FARC-Delegation an den Friedensverhandlungen mit der kolumbianischen Regierung teil. Heute lebt sie in Kolumbien und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht.

Sie wollte das Richtige tun

So viel zu den Fakten eines aufregenden Lebens. Doch es war keine Abenteuerlust, die Nijmeijer dazu brachte, eine Guerillera zu werden. Gewiss war sie ein bisschen naiv, aber das ist für junge Menschen nicht ungewöhnlich. Vielmehr wollte sie das Richtige tun und auf der Seite der Guten gegen das Böse kämpfen. Dafür war sie sogar bereit, zu sterben.

Das hört sich dramatisch an, doch diese Frau, die heute Mitte 40 ist, hat nichts Pathetisches an sich – im Gegenteil: Sie wirkt klar und vernünftig. Der Dokumentarist Marcel Mettelsiefen, der zunächst als Fotograf tätig war, hat für sein Filmporträt „Tanja – Porträt einer Guerillera“ eine interessante spannende Form gefunden. Er erzählt von einem neutralen Standpunkt aus in kurzen Einstellungen mit vielen Perspektivwechseln, immer wieder auch über Archivaufnahmen und lediglich mit Originaltönen, ohne Sprecherkommentar.

Dabei kommt Tanja Nijmeijer selbst am häufigsten zu Wort und erinnert sich, wie aus dem wohlbehüteten niederländischen Provinzmädchen eine weltweit gesuchte Guerillera wurde und wie sie darüber heute denkt. Mettelsiefen zeichnet ihre Biografie auch anhand von Bildmaterial und Interviews mit ihrer Familie, mit Studienfreundinnen und Zeitzeugen nach. Am Ende ergibt sich ein intensiver Blick auf eine komplizierte Frau, die aktiv am Bürgerkrieg beteiligt war und bis heute die Konsequenzen daraus trägt – ganz ohne Schönfärberei.

Es beginnt wie ein Thriller

Der Film beginnt wie ein Thriller mit kurzen Flashs: der Dschungel von oben mit dem Insert „Colombia 2003“, eine Nachrichtensprecherin, die über die Entführung von drei mutmaßlichen CIA-Agenten berichtet, der Journalist Jorge Enrique Botero, der darüber berichtet, wie er sich als Einziger in den Dschungel gewagt habe, um die drei US-Amerikaner zu interviewen. Dann wieder Originalbilder von 2003: Botero trifft in einem Gefangenencamp auf den Guerilla-Chef Mono Jojoy und seine prominenten Geiseln. Doch zu Boteros großer Überraschung ist auch eine junge Frau dabei, die als Dolmetscherin für die FARC-Rebellen fungiert. Botero beginnt sich für sie zu interessieren. Wer ist diese Frau? Und wie kam sie zur FARC? Eine junge Frau in Uniform lacht in die Kamera. Darüber der Titel, unterlegt mit spannungsgeladener Musik.

Es folgen collagenartig animierte Zeitungsschlagzeilen, Archivbilder in Farbe und Schwarz-weiß zu den Aktivitäten der Guerilla in Kolumbien; die Musik steigert sich, wird schriller und nervös, mehrmals fällt der Name Tanja Nijmeijer, sie wird in Zeitungen als Terroristin bezeichnet. Ein altes Foto – und dann die Tanja Nijmeijer von heute, eine schmale, dunkelhaarige, noch immer jugendliche Frau, und die Frage: „Siehst du dich selbst als Terroristin?“ Ihre Antwort: „Nein, natürlich nicht.“

Die große Frage nach dem Warum

Der fesselnde Beginn, der effektiv in den Sog der Geschichte zieht, ist symptomatisch für einen Film, in dem es oberflächlich um ein Frauenschicksal geht, aber mehr um die Faszination eines Lebens jenseits der Normen bis hin zur Selbstaufgabe und um die große Frage nach dem Warum.

Mettelsiefen lässt Nijmeijer sprechen; er gibt ihr die Gelegenheit, sich zu rechtfertigen, doch sie bittet nicht um Entschuldigung. Nijmeijer wurde von ihrem Idealismus geleitet. Sie wollte eine Revolutionärin sein und mit den Bauern für ein besseres, gerechteres Leben kämpfen, gegen Armut und Korruption. Von Anfang an war sie sich über die möglichen Konsequenzen im Klaren. Die marxistisch-leninistische Ideologie diente dabei als Rechtfertigung für den Waffengebrauch. Ein bekanntes Muster: Die scheinbar unterlegenen Guten wehren sich gegen die drückend überlegenen Bösen, David gegen Goliath, die Schwachen gegen die Starken, Arm gegen Reich. Doch wer oder was ist hier gut, und was böse?

Die Geschichte von Tanja Nijmeijer, so originell und spannend sie ist, zeichnet eine beinahe typische Entwicklung nach. So wie aus der ursprünglichen Bauernbewegung eine korrupte Organisation wurde, die immer tiefer in den Sog von Drogenkriminalität und Terrorismus geriet, so veränderte sich auch der Blick der Frau, die vor mehr als 20 Jahren eine paramilitärische Ausbildung bei der FARC absolvierte und bewaffnet und in Uniform gerne vor der Kamera posierte. Ihre Tagebücher zeigen, dass sie den Rebellen gegenüber immer kritischer wurde. Dennoch bleibt die Tatsache bestehen, dass sie aktiv an Bombenattentaten beteiligt war, dass sie geschossen und gekämpft hat und bis heute zu ihren Entscheidungen steht und nicht als Märtyrerin betrachtet werden will.

In den Augen der Öffentlichkeit war sie in wechselnden Rollen mal Täterin, mal Opfer; und bis heute polarisiert sie. Dennoch gibt sie zu, dass sich in Kolumbien eigentlich nichts verändert hat und ihr Einsatz letztlich umsonst war. „Versöhnung braucht Zeit“, sagt sie heute. Auch sie hat die Waffen niedergelegt.

Marcel Mettelsiefen verzichtet auf jede Wertung und jede Indoktrination. Dennoch ist „Tanja – Tagebuch einer Guerillera“ ein faszinierendes Dokument zum Thema „Umgang mit Gewalt“ – gerade heute und gerade jetzt.

Erschienen auf filmdienst.deTanja – Tagebuch einer GuerilleraVon: Gaby Sikorski (1.6.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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