
- Veröffentlichung13.11.2025
- RegieMaja Classen
- ProduktionDeutschland (2024)
- Dauer79 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- Cast
- AltersfreigabeFSK 18
Vorstellungen
Filmkritik
Es gibt gute Gründe, sich „Truth or Dare“ nicht anzusehen. Einige davon werden dem Film als Warnhinweise vorangestellt: Nudity, Explicit Sex. Zudem werden potenzielle Trigger-Themen wie sexualisierte Gewalt, psychische Krankheit und Drogenabhängigkeit angesprochen. Ein weiterer Grund, die Dokumentation von Maja Classen zu meiden, der allerdings nicht genannt wird, ist die Beklemmung, die es auslösen kann, wenn man Menschen begegnet, die sich, und sei es auch nur auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm, scheinbar ausschließlich über ihre Sexualität definieren.
Diese von Classen eher unbeabsichtigt suggerierte Einseitigkeit der Lebensführung, die sich mit der queeren, pansexuellen, polyamorphen und sexpositiven Offenheit im Bereich des Geschlechtlichen zu einem dekonstruktiven Widerspruch verknotet, vermag durchaus ein tiefes Unbehagen zu erzeugen. Vielleicht ist aber gerade diese, hier ins Negative gekehrte Kraft ein guter Grund, sich den Film „Wahrheit oder Lüge – Truth or Dare“ doch einmal genauer anzuschauen.
Jede Berührung erfolgt mit Bedacht
Möglicherweise resultiert das beklemmende Gefühl, das mit der Apotheose einer frei ausgelebten Sexualität einhergehen kann, aus einer an der Außenperspektive scheiternden Identifikation. Die an der Dokumentation Mitwirkenden, darunter Künstler:innen, Pornodarsteller:innen und Sexarbeiter:innen, die in langen, tiefgründigen und bisweilen lyrischen Voice-Over-Kommentaren von ihren sexuellen Identitätsfindungen erzählen, beschreiben jedenfalls das exakte Gegenteil: ein Gefühl der Befreiung.
Sie leben in Berlin, stammen aber aus unterschiedlichen Teilen der Welt und verschiedenen sozialen Verhältnissen. In „Truth or Dare“ treffen sie sich zum titelgebenden Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel mit Flaschendrehen, bei dem sie einander wahlweise intime Fragen oder Aufgaben stellen, die von leidenschaftlichen Küssen bis zu Bondage, Fesseln oder Auspeitschen reichen können. Unverkennbar ist, wie behutsam, einfühlsam und liebevoll sie dabei miteinander umgehen. Jede Berührung erfolgt mit Bedacht, nichts geschieht ohne wechselseitiges Einverständnis, nichts von dem, was sie tun, wirkt leichtfertig oder gedankenlos.
Behutsam verhält sich auch die Kamera von Alina Albrecht, die ihre Bewegungen einfängt. Obwohl sie so nah und so schamlos über die nackten Körper gleitet wie in einem Pornofilm, haben ihre Aufnahmen nichts Pornografisches, da sie sich ganz dem Begehren der Teilnehmenden hingeben und sich nicht für das der Zuschauenden zu interessieren scheinen. Es ist eine diskrete, poetisch verklärte Freizügigkeit, eine Hingabe unter Vorbehalt, die das Handeln der Protagonist:innen widerspiegelt. So vorsichtig, als gälte es Sprengstoff zu entschärfen, entlocken sie einander die Lust.
Ganz im Hier und Jetzt
Die Gefahr begleitet sie dabei auf doppelte Weise: in Claessens Inszenierung und in ihrer eigenen. Sie bildet die Kehrseite ihrer Umsicht und Kontrolle. Sie scheint durch ihre im Off erzählten Biografien umso mehr hindurch, je weiter sie in ihren Erinnerungen zurückgehen: Kindheiten, geprägt von Gewalterfahrungen und der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Gesehen-Werden. Im ganz dem Hier-und-Jetzt huldigenden sexuellen Gottesdienst geraten die Körper zu Sinnbildern der Seele. Es ist eine fragile Spiritualität, die den Kontrollverlust, die Ichaufgabe unter kontrollierten Bedingungen inszeniert – die transfeminine Künstlerin Adrienne Teicher vergleicht das mit einer Achterbahnfahrt oder einem Chor. Eine Spiritualität, die sich jenseits ihrer Inszenierung des Augenblicks, des eigenen fluiden Geschlechts, des sexuellen Da-Seins und der gemeinsamen Vielfalt menschlicher Körper im Haltlosen zu verlieren droht.
Der Film von Maja Classen zeigt beides. Auf den Spuren von Pier Paolo Pasolini oder Bernardo Bertolucci verwandelt die Filmemacherin die sexuellen Begegnungen bis hin zum Gruppensex in renaissanceartige Filmgemälde, einen künstlerischen Akt und schließlich einen Tanz. Andererseits erzeugt sie aber mit bedrohlichen Klängen und einer unruhig suchend ins Dunkel sinkenden Kamera eine surreal wabernde Atmosphäre, die an David Lynch erinnert. So scheint es, als betrete sie mit den diffusen, zwielichtigen, Corona-Lockdown-leeren Kellergefilden der Darkrooms zugleich das Unbewusste, Unterbewusste, auch Abgründige menschlicher Natur. Ein ungewisser, wehmütiger Balanceakt zwischen Mutterschoß und Hölle.
