Szene aus Wer wir gewesen sein werden
Filmplakat von Wer wir gewesen sein werden

Wer wir gewesen sein werden

81 min | Dokumentarfilm | FSK 12
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Szene 1 aus Wer wir gewesen sein werden
Szene 2 aus Wer wir gewesen sein werden
Eine Geschichte über die eigene Identität nach dem Verlust eines geliebten Menschen.

Filmkritik

Autos rauschen über eine Landstraße in der Dämmerung. Von der Böschung aus aufgenommen, wirken sie mit ihrer Geschwindigkeit auf der schmalen Fahrbahn wie selbstmörderische Geschosse, die an der Kamera vorbeirasen. Für Erec Brehmer ist dieser gefilmte Moment die erste Rückkehr an den Ort eines Unfalls, dessen Hergang sich noch nicht erschließt. Stattdessen erinnert er sich im Voice-Over an eine Zeit, die dem Ereignis vorausging: Das gemeinsame Leben mit seiner Freundin Angelina. Die Akribik, mit der er die Chronik ihrer Beziehung von ihrem Beginn an dokumentiert, markiert die junge Frau bereits als eine Abwesende.

Es beginnt mit Screenshots ihres Tinder-Accounts. Eins von vielen Profilen, bei denen Erec vor Jahren ein „Like“ gesetzt hat, bevor es zu einem Treffen kam. Und dann war da plötzlich dieses schüchterne wie einnehmende Lachen. Braune, lange Haare und ein fragender Blick. Mit einer Flut an Fotos und selbstgedrehten kleinen Videos lässt der Filmemacher die Momente des ersten Kennenlernens aus der iCloud wiederauferstehen. Oft ist er auch selbst im Bild. Zu diesem Zeitpunkt studiert Erec bereits an der Filmhochschule, und die fast schon manische Lust, alles aufzuzeichnen, scheint von daher plausibel. Augenfällig ist jedoch die Art und Weise wie Angelina von ihm gefilmt wird: Immer wieder in extremen Nahaufnahmen, herausfordernd, taxierend. So als wollte er ihrem Gesicht ein Geheimnis entlocken oder ihr auf einer tieferen Ebene nahe sein, als die sporadischen Dialoge zwischen ihnen es andeuten.

Fragmente eines Lebens

Die junge Frau lacht häufig und spielt die Inszenierungen mit, manchmal wendet sie sich aber auch ab oder bleibt verschlossen. Im Voice-Over versucht Erec ein schlüssiges Bild von Angelinas Leben zu kommunizieren, das gegenüber den sehr intimen Bildern seltsam äußerlich bleibt. Man erfährt, dass sie aus einer ländlichen Region Bayerns kommt und eine Ausbildung in einer Brauerei absolviert hat, nachdem sie ihr Studium wider Erwarten nicht bestanden hat. Warum das so war, erfahren wir nicht. Eine weitere Belastung schildert er in Erinnerung an eine von ihr erzählte Kindheitsepisode: Angelina hat ihren Vater erst mit 11 Jahren kennengelernt. Ein lang erwarteter gemeinsamer Ausflug mit ihm kam nicht zustande, weil er einfach nicht auftauchte. Auch die Beziehungschronik des Paares kreist um Fragen von Nähe und Distanz. Angelina artikuliert mehrfach, dass sie sich einen Heiratsantrag wünscht, Erec ringt jedoch schon mit dem Beziehen einer gemeinsamen Wohnung.

Dann kommt es an einem Märztag nach einem gemeinsamen Ski-Trip in den Bergen zum Unglück. Auf der Rückfahrt sitzt Erec auf dem Beifahrersitz, arbeitet am Laptop und telefoniert. Plötzlich bemerkt er, wie Angelina den Wagen über die Mittellinie in den Gegenverkehr steuert, ohne auf seinen Alarm zu reagieren. Das Auto prallt frontal mit voller Wucht in das einer anderen Fahrerin. Es sind erschütternde Momente, wenn Erec mit erstickter Stimme vor einem Schwarzbild zu hören ist, wie er aus der Intensivstation jemandem auf die Mailbox spricht. Zu diesem Zeitpunkt weiß er noch nicht, dass Angelina bereits tot ist. Die daraufhin eingeblendeten Fotos der Feuerwehr von dem Autowrack lassen erahnen, wie massiv der Zusammenstoß gewesen sein muss. Erec dokumentiert auch im Krankenbett mit seinem Handy minutiös die Wunden und die Röntgenbilder der Ärzte. Doch die plötzliche Abwesenheit Angelinas bleibt unfassbar.

Trauerarbeit mit audiovisuellen Mitteln

Im dritten Teil entfaltet der Film vollends sein Anliegen einer Trauerarbeit mit audiovisuellen Mitteln. Wie in einem Tagebuch lässt Erec Brehmer die Zuschauer an jedem Schritt des Prozesses, an jedem noch so ambivalenten Gedanken teilhaben. Immer wieder kehrt er dabei zu den Aufnahmen Angelinas zurück. Da er auch gerne mit Effekten experimentiert, werden Fisheye-Objektive und Slow-Motion-Sequenzen plötzlich zu mehr als nur Spielereien: In der zerdehnten filmischen Zeit werden rückblickend Momente bedeutsam, die zuvor nicht erfahren werden konnten.

Eindrücklich wird das in einer Nahaufnahme von Angelinas Gesicht: In der Zeitlupe zerfällt ein Moment des Lachens in seine Einzelteile. Schwermut wird in der Augenpartie sichtbar. Erec findet in den Notizen auf ihrem iPhone Einträge, die von der Schwierigkeit erzählen, die eigene Traurigkeit anderen mitzuteilen. Eine klamme Angst treibt ihn auf die Suche nach einem Abschiedsbrief, den er jedoch nicht vorfindet. Angelinas Tod bleibt eine ebenso offene Frage wie viele Aspekte ihres Lebens und ihrer Beziehung.

Bilder als Beziehungsereignis

Die tiefe Betroffenheit, die sich durch „Wer wir gewesen sein werden“ einstellt, hat mehrere Ebenen. Die Konfrontation mit privatem, sehr alltäglichem Bildmaterial eines jungen Menschen, der nicht mehr lebt, rührt neben dem Mitgefühl für das Schicksal Angelinas auch an dem verdrängten Bewusstsein der Fragilität des Lebens, der eigenen Sterblichkeit. Darüber hinaus tangieren die Aufnahmen auch deswegen so sehr, weil ihr überflutender Charakter in eigentümlichem Kontrast zu jedem Informationsgehalt steht: Entstehen Bilder heute noch aus dem Wunsch, sich an ein Ereignis zu erinnern, oder sind sie selbst zum reinen Beziehungsereignis geworden?

In zwei schmalen Büchern mit schwarzem Einband wird Erec schließlich den gesamten Chatverlauf mit Angelina ausgedruckt der Kamera präsentieren. Zugleich wird er mit Bedauern feststellen, dass er viele Kontaktangebote seiner Freundin, die auf den Videos erkennbar sind, gar nicht bemerkt hat, weil er damit beschäftigt war, jedes Detail ihres Lebens aufzuzeichnen.

Erschienen auf filmdienst.deWer wir gewesen sein werdenVon: Silvia Bahl (24.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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