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When Lightning Flashes Over the Sea

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When Lightning Flashes Over the Sea ist eine filmische Reise durch das kriegsgezeichnete Odesa, in der Regisseurin Eva Neymann poetisch die Lebenswelten und Träume der Stadt und ihrer Bewohner einfängt: Geschichten von Verlust, Hoffnung und Widerstand – zwischen bröckelnden Fassaden, Lichtinseln und der allgegenwärtigen Dunkelheit des Krieges.
  • Veröffentlichung20.11.2025
  • Eva Neymann
  • Deutschland (2025)
  • 124 Minuten
  • Dokumentarfilm
  • FSK 6

Sanft rauscht am Horizont das Schwarze Meer. Auf der Strandpromenade lässt die Spätsommersonne rauchende Nomaden zu Silhouetten im Gegenlicht gerinnen. Bauarbeiter pausieren oberkörperfrei auf dem reparaturbedürftigen Dach einer Kirche. In der Stadt stockt der träge Verkehr, während Menschen in luftiger Sommerkleidung auf den Bus warten.

Ein kleiner Junge malt sich im Voice-Over sein kommendes Geburtstagsfest in schillernden Details aus. Während seine noch körperlose Stimme von mittelgroßen Schokoladenkuchen fabuliert, nimmt die Kamera gleichzeitig ein Kind in den Fokus, dessen nachdenklicher Blick sich in der Ferne verliert. Als nach einer Weile beide zu einer diegetischen Einheit werden, fühlt es sich an wie ein Erwachen aus einem berückenden Traum. Der aufspringende Junge spricht laut und immer weiter, während er ein imaginäres Publikum durch die Hinterhöfe seiner Stadt führt: Odessa.

Mit der naiven Klarheit eines Kindes

Was das zum Zeitpunkt der Aufnahme bedeutet, wird beiläufig freigelegt. Ein Konzertplakat auf einer brüchigen Wand zeigt das Jahr 2023. Schon über ein Jahr dauern also die russischen Angriffe auf die alte ukrainische Hafenstadt an. Und dennoch geht der Alltag weiter. Eine schwere Ikone wird von Geistlichen ins Kirchenschiff getragen, während eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter Kerzen anzündet. Das Mädchen erzählt von den Erlebnissen aus jüngster Zeit mit einer naiven Klarheit, wie es nur Kinder können. Als es körperlich aus dem filmischen Bild tritt, geht sein Bericht weiter, doch die Stimme wechselt plötzlich ins Extradiegetische. Bomben sind gefallen, Schutzbunker wurden aufgesucht, hört man das Mädchen sagen. Dabei sei sie dann einfach ganz still gewesen.

Folgte die erste Bild-Ton-Schere noch der Logik des Traumhaften, so stürzt die zweite hinab ins Traumatische. Immer wieder wird die in Berlin lebende, ukrainische Regisseurin Eva Neymann in „When Lightning Flashes Over The Sea“ solche dissoziativen Momente zwischen dem Visuellen und dem Auditiven nutzen, um in der verwundeten Stadt filmische Wahrnehmungsräume zwischen Erinnerung und Hoffnung zu öffnen.

Wie ein plötzlich aufreißender Abgrund

Eine ebenso dezente wie herausragende Rolle spielt dabei auch der Einsatz von Musik. Wenn auf dem Marktplatz ein Akkordeonspieler seine melancholischen Weisen anstimmt, öffnen sich auf der Bildebene Türen, und Menschen beginnen zu erzählen. Unterschiedliche Räume verschränken sich ineinander, treten in Resonanz. Anekdoten voller eindrücklicher Details aus dem Leben werden berichtet, bis in die sich einstellende Vertrautheit familiärer Erzählungen der Krieg einbricht, wie ein plötzlich aufreißender Abgrund. Um diese schwindelerregende Dissonanz herum hat Neymann ihren gesamten Film gebaut. Schönheit und Zerstörung, Banales und Brutales existieren in einer schwer aushaltbaren Gleichzeitigkeit, die den Krieg abseits des Schlachtfeldes mit seinen militärischen Gefechten kennzeichnet.

In einer weiteren Szene hört man lange einen fernen, aber eindringlichen Ton, der fast so klingt, als sei er Teil eines ausgefeilten filmischen Sounddesigns – bis er plötzlich ins Heulen kippt und sich als Alarmsirene im diegetischen Raum zu erkennen gibt. Der alte, gebrechliche Mann, der sie hört, hat aufgehört, sich zu verstecken. Er berichtet der Regisseurin von einem Albtraum, der ihn immer wieder heimsucht. Nicht das Sterben mache ihm Angst, sondern der Gedanke, womöglich lebendig begraben zu werden. Und dennoch sei das Leben schön, fügt er hinzu. Wenn er am Fenster stehe und die Blätter fallen sehe, wie in seiner Kindheit.

Die sonst eher zurückgenommene, beobachtende Kamera kommt dem Gesicht in seiner Verletzlichkeit ganz nah. Das „Vivace“ aus dem Violinkonzert in d-Moll von Bach verbindet diesen intensiven Moment mit dem Bild einer Blumenverkäuferin, die auf der Straße leuchtende Sträuße arrangiert. Immer wieder changiert die Perspektive zwischen einer schwebenden Wahrnehmung des Urbanen und tiefen Einblicken in das seelische Gewebe seiner Bewohner, zwischen zwei Arten von Augenblicklichkeit.

Erinnerung an die Deportationen

Besonders intensiv wird dies beim Besuch in der Wohnung einer sehr alten Dame, die sich durch den Krieg an die Deportationen in ihrer Kindheit erinnert fühlt. Das qualvolle Warten auf den nächsten Einschlag im Hier und Jetzt verbindet sich mit dem damaligen Wissen, um die angekündigte Auslöschung, für die jede Flucht zu spät schien. Langsam beginnt ihr Körper rhythmisch zu wippen, während sie sich der schmerzhaften Erinnerung öffnet. Die Stimme wechselt ins Jiddische, als sie vom Tod ihrer Schwester berichtet und Gott zugleich für ihre Rettung dankt. Die Spannung einer unbegreiflichen Gleichzeitigkeit lässt sie kraftlos in ihr Bett niedersinken. „Shlof sche, main fegele“, singt ein Mann im filmischen Off eine alte jüdische Weise von einer Schallplattenaufnahme, während im nächsten Bild der Wind sanft die fallenden Blätter durch das nächtlich daliegende Odessa weht.

Dunkelheit und Licht sind ebenso gestalterische Polaritäten, mit denen Neymann das Ineinander von Intimität und tiefer Verlorenheit filmisch greifbar macht. Immer wieder kommt es durch die Bombenangriffe zu Stromausfällen, sodass die wenigen hellen Räume zu visuellen Inseln in einem schwarzen Ozean werden. Taschenlampen werfen ihre Lichtkegel in die Straßenschluchten. Kerzen und Gasherde erhellen einzelne Fenster an den undurchdringlichen Häuserfassaden. Ein leuchtender Vollmond wirft eine goldene Brücke über den leeren Hafen.

Aber zur unendlichen Schwere jener Einstellungen schafft die Regisseurin einen weiteren bemerkenswerten Kontrast: Dem zu Szenen voller Leichtigkeit und sanfter Komik. So werden ein Blockflötenspieler und ein Straßenverkäufer in einer Einstellung durch geschickte Montage plötzlich zu einem nächtlichen Varieté: Das angebotene LED-Blinkspielzeug wirkt in Großaufnahme wie ein mechanisches Ballett, untermalt von einem orchestral verstärkten, fröhlichen Konzert. Immer wieder sieht man auch streunende Katzen in Rudeln durch die Stadt stromern und in fast slapstickartiger Manier Dinge umwerfen oder sich in anderer Form den menschlichen Raum aneignen.

Eine Erlösung als Blitz über dem Meer

Ob in längeren Einzelaufnahmen von Menschen oder flüchtigen Szenen: Es entstehen Eindrücke, die tief unter die Haut gehen. Oft sind es entweder Kinder oder sehr alte Menschen, an denen sich Kriegserfahrungen in besonderer Weise zeigen. Die einen begegnen dem Unfassbaren zum ersten Mal, die anderen macht seine Wiederkehr im selben Leben fassungslos. Wer viel erlebt hat, sucht in Erinnerungen Trost. Wer noch nichts anderes gesehen hat als Krieg, der träumt von einer Erlösung, die sich als Blitz über dem Meer ankündigt.

Veröffentlicht auf filmdienst.deWhen Lightning Flashes Over the SeaVon: Silvia Bahl (21.11.2025)
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