Szene aus A Symphony of Noise
Filmplakat von A Symphony of Noise

A Symphony of Noise

96 min | DOKU, SWR Doku Festival | FSK 0
A SYMPHONY OF NOISE ist eine aufregende Reise durch die Gedanken-, Klang- und Hör-Welt des Audio-Dokumentaristen Matthew Herbert. Über den Zeitraum von 10 Jahren hat der Regisseur Enrique Sánchez Lansch den Künstler in seinem kreativen Prozess begleitet: bei der Konzeption, Aufnahme und Aufführung seiner spannendsten Projekte und vielfältigen Aktivitäten. Musik ist für den Briten kein Produkt sondern ein Prozess. Die Zuschauer können direkt erleben, wie Herbert aus Alltagsgeräuschen Musik macht. Sie erfahren, was diesen Ausnahmekünstler antreibt, wie er zu seinen Überzeugungen gekommen ist, und warum die Veränderung unseres Hörens für ihn ein revolutionärer Akt ist. Matthew Herberts Credo lautet, dass aufmerksames und differenziertes Hinhören und Zuhören die Welt entscheidend verbessern, sie gerechter und lebenswerter machen kann. Der Film lädt seine Zuschauer dazu ein, diese Erfahrung mit ihm gemeinsam zu machen. Im Mittelpunkt von A SYMPHONY OF NOISE steht die vielleicht größte kreative Herausforderung, der sich Herbert stellt: Er verlässt das Genre Musik und verfasst ein Buch, in dem er Geräusche beschreibt, die sich zu virtuellen Musikstücken zusammen setzen. Was zunächst als willkommene Abwechslung erscheint, wird zwischenzeitlich zu einer künstlerischen Krise… Wir begleiten Matthew Herbert in den Wald und lauschen den Geräuschen eines Baumes während er gefällt wird. Bei Proben mit seiner „Brexit Big Band“, die er als Reaktion und Kommentar auf den Brexit gründete. Wir lauschen einer Schwimmerin auf ihrem langen Weg durch den Ärmelkanal. Wir sehen und hören den britischen Klangkünstler, wie er das Leben eines Schweins von dessen Geburt bis zur Schlachtung und Verarbeitung bis auf den Teller aufnimmt und in Musik verwandelt. Nach diesem Film hören wir die Welt mit anderen Ohren.

Filmkritik

Ehrlich gesagt: Lange nichts mehr gehört von Matthew Herbert! Die Zeiten, als seine Veröffentlichungen als DJ, Produzent, Bandleader und Sampling-Artist von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, liegen schon etwas länger zurück: „Around the House“ (1998), „Bodily Functions“ (2001), „Goodbye Swingtime“ (2003), „Plat du jour“ (2005), „Mahler Symphony X recomposed“ (2010) oder „One Pig“ (2011) waren seinerzeit auf eine etwas verschrobene Art ziemlich hip. Politische Tanzmusik, basierend auf gesampelten Geräuschen. Andererseits konnte ein Konzert der Matthew Herbert Big Band auch ziemlich nervig ausfallen. Big Band Jazz, eher konservativ, präsentiert mit dem ulkig-britischen Habitus von Monty Python und einer extra Portion politischer Didaktik, die sich allerdings nicht musikalisch, sondern verbal vermittelte.

Das ist alles ein bisschen kompliziert. Intellektuelle, kollektiv produzierte Nachkriegsmusik, hintersinnig politisiert und damit von ihrem konservativen Ruf befreit. Im Booklet der Alben, in den Moderationen von Herbert und eventuell auch in den Samples versteckten sich unendlich viele Informationen, die auf die Neugier der Endverbraucher setzen: Da werden die Seiten politischer Bücher umgeblättert und sollen Geräusche von Epson-Druckern an Kinderarbeit in der sogenannten Dritten Welt erinnern. Damit man auch versteht, was man hört, setzt der politische Musiker Herbert auf ein ganz altes Medium: die Schrift und das Wort. Man musste die kommentierten Begleittexte lesen und dem Künstler zuhören, um die subversive Subtilität des Projektes in Gänze zu erfassen.

Das Knacken beim Zahnziehen

Das ist in der Tat alles schon etwas länger her. Insofern ist „A Symphony of Noise“ als Wiedervorlage sehr zu begrüßen, weil die Ideen und Konzepte und das Selbstverständnis Herberts noch immer äußerst reizvoll sind und eine größere Öffentlichkeit verdient haben. Der Dokumentarist Enrique Sánchez Lansch begleitete Matthew Herbert zehn Jahre lang bei seinen Konzeptentwicklungen, Sound-Forschungen und konzertanten Auftritten und befragte ihn zu seiner Ästhetik. Das Resultat dieser Langzeitbegleitung präsentiert einen Künstler, der sich explizit politisch versteht, aber zugleich mit einem Humor ausgestattet ist, der die teilweise sehr abstrakten Konzepte immer wieder erdet und selbstironisch abfedert.

So steht ein Auftritt im Berliner Techno-Club Berghain am Beginn des Films, wo Herbert mit seiner Band den Dancefloor befeuern soll, aber durchaus auch die Geräusche erklärt, aus denen seine Musik montiert ist. Eines davon ist das Knacken, als Herbert ein Zahn gezogen wurde. Dieser Sound wird jetzt zum Teil eines Tracks, der für die Hörer und Tänzer nach Herberts Erläuterung durch das Mehr-Wissen schmerzhaft kontaminiert ist.

Herbert beklagt die Limitationen konventioneller Klangerzeugung, in der die Musik nach Wegen sucht, um als Simulation von etwas zu klingen. Die Kunst der Mikrofonie erlaubt es ihm hingegen, mit der Welt zu interagieren und an Orte zu führen, die sonst im Verborgenen blieben. Mit den Möglichkeiten des Samplers verfügt er überdies über die größte Klaviatur überhaupt, nämlich über alle Klänge des Planeten. Der Kreativität sind damit keine Grenzen gesetzt; andererseits braucht es künstlerische Konzepte, wenn man nicht lediglich eidie Ambience verdoppeln will.

Am Vinyl klebt Blut

Wie klingt es, wenn ein Baum gefällt wird, im Inneren des Baumes? Und dramaturgisch weitergedacht, gilt es beim Komponieren mit gefundenen Sounds nicht nur an den Bruch, das Drama, den Konflikt oder das Ereignis zu denken. Denn nachdem der Baum gefällt wurde, bemerkte Herbert in der Natur eine ungewöhnliche Stille, die vielleicht spektakulärer ist als das Geräusch des fallenden Baumes. An anderer Stelle erklärt er, dass er als politisch bewusster Künstler sehr wohl Teil des Problems und Teil des zu bekämpfenden Systems sei, weil er zwar ökologisch sensibel agiere, aber als Musiker trotzdem auf Langstreckenflüge angewiesen sei. Mehr noch: Für die Hüllen seiner Platten würden Bäume gefällt, am Vinyl klebe das Blut des Irakkriegs und die Steuern, die er zahle, stecke seine Regierung in den Waffenhandel.

Den romantischen Mythos des leidenden Künstlers mag Matthew Herbert aber nicht bedienen. Trotzdem ist es spannend mitzuerleben, wie er sich empathisch und improvisierend mit seinen künstlerischen Mitteln Gustav Mahlers 10. Sinfonie nähert und die Musik mit Texturen, Referenzen und Kontexten um die Begriffe Verlust und Aufbruch anreichert und re-komponiert. Ein schönes Bild für seine Arbeit liefert Herbert gleich mit: Sie sei ein Puzzle ohne (Vor-)Bild, bei dem erst im Verlauf klar werde, wie viele Teile es habe.

Später, bei der kritischen Auseinandersetzung des geborenen Europäers (Jahrgang 1972) mit dem Brexit und Fragen der Identität, wird ein Fish & Chips-Laden mikrofoniert, eine Trompete frittiert, ein gemischter Chor in Berlin zu mehr Vulgarität angehalten und insgesamt viel gelacht und geflucht.

Konzentriert und genau hinhören

Der äußerst sorgfältig gemachte Film hält sehr schön die Balance zwischen Neugier, Genauigkeit, Reflexion und selbstironischem Gestus, wie sie auch seinem Gegenstand zu eigen ist. Vom großzügigen Drohneneinsatz einmal abgesehen. Matthew Herbert wäre schon dankbar, wenn es ihm gelänge, Menschen dazu anzuhalten, in einer sehr lauten Welt einfach mal konzentriert und genau hinzuhören. Wenn dieses genaue Hinhören dann auch noch das Bewusstsein schärfen und politische Konsequenzen in Herberts linkem Sinne zeitigen würde, wäre das zu begrüßen, wenngleich als Resultat nicht vorhersehbar. Als alternative Option bleibt immerhin die Wieder- oder Neuentdeckung der Alben von Matthew Herbert.

Erschienen auf filmdienst.deA Symphony of NoiseVon: Ulrich Kriest (3.11.2022)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
Über Filmdienst.de Filmdienst.de, seit 1947 aktiv, bietet Filmkritiken, Hintergrundartikel und ein Filmlexikon zu neuen Kinofilmen aber auch Heimkino und Filmkultur. Ursprünglich eine Zeitschrift, ist es seit 2018 digital und wird von der Katholischen Filmkommission für Deutschland betrieben. filmdienst.de