Szene aus Aheds Knie
Filmplakat von Aheds Knie

Aheds Knie

110 min | Drama | FSK 12
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Der israelische Filmemacher Y. reist in ein abgelegenes Dorf inmitten der Wüste von Arava, um in der dortigen Bibliothek seinen letzten Film vorzustellen. Seine Gedanken sind längst bei einem neuen Projekt, einem Film über die palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi, die einige Jahre zuvor vor laufenden Kameras einen Soldaten geohrfeigt hatte. Bei seiner Ankunft in dem Wüstenort wird Y. von Yahalom, der jungen stellvertretenden Leiterin der israelischen Bibliotheken, herzlichst empfangen. Vor der Veranstaltung wäre aber noch eine kleine Formalie zu erledigen: Y. soll ein neues Formular unterzeichnen, mit dem er seine Loyalität gegenüber der Regierung bestätigt. Anstatt zu unterschreiben, startet Y. einen leidenschaftlichen Kampf für die Meinungsfreiheit seines Landes, einen verzweifelten Versuch, die israelische Demokratie vor dem freien Fall zu retten.
  • RegieNadav Lapid
  • Dauer110 Minuten
  • GenreDrama
  • AltersfreigabeFSK 12
  • TMDb Rating5.6/10 (4) Stimmen

Filmkritik

Den Regisseur X. verbindet eine leidenschaftliche Hassliebe mit seinem Heimatland Israel. Das macht schon der Titel des Films klar, an dem er gerade arbeitet: „Aheds Knie“ soll die Geschichte der palästinensischen Demonstrantin Ahed Tamimi aufarbeiten, die 2018 als damals 17-Jährige einen israelischen Soldaten schlug und dafür ins Gefängnis ging. Ein Knesset-Abgeordneter ließ sich seinerzeit zur Aussage hinreißen, dass man der jungen Frau eine Kugel in die Kniescheibe jagen solle, damit sie nie wieder laufen könne. Der Titel lässt jedoch auch an „Claires Knie“ von Eric Rohmer denken, in dem der Protagonist Jérôme sich in die junge Claire verguckt und von dem Gedanken geradezu besessen ist, ihr Knie zu berühren.

„Aheds Knie“ nennt auch der reale Filmemacher Nadav Lapid seinen jüngsten Film. Die Parallelen zu X. kommen nicht von ungefähr; X. soll seinen vorherigen Film, ein großer Erfolg auf dem Filmfestival in Berlin, in einer kleinen Gemeinde in der Arava-Wüste am Rande des Negev präsentieren; auch Lapid gewann 2019 mit seinem Film „Synonymes“ bei der „Berlinale“ den „Goldenen Bären“. Darin verarbeitete Lapid seinen eigenen Weggang aus Israel, die erste Zeit in Paris, in der er seine Herkunft und Identität eigentlich abschütteln wollte und doch immer wieder darauf zurückgeworfen wurde.

Kein Wort über den Nahostkonflikt

X. kommt aus der Metropole Tel Aviv in die ländliche Wüstenregion und trifft auf die engagierte Kulturamtsmitarbeiterin Yahalom. Ihre Liebe zur Literatur hat die junge Bibliothekarin im öffentlichen Dienst schnell aufsteigen lassen, aber auch in die unangenehme Situation gebracht, dass sie damit Teil einer Maschinerie ist, die Zensur ausübt. Ihr Interesse an X. und seinem Film ist ehrlich, ihre Menschlichkeit macht diese Figur besonders tragisch. Sie bittet X., ein Formular auszufüllen, in dem er vorab angeben muss, welche Themen er nach der Filmvorführung mit dem Publikum besprechen will – etwa den Holocaust und seine Konsequenzen; aber auch die jüdische Diaspora ist ein gern gesehenes Thema. Doch der jahrzehntelange Nahostkonflikt wird in dem Formular mit keinem Wort erwähnt und müsste deshalb vorab genehmigt werden.

X. macht aus diesem beiläufig als Formalität etikettierten Vorgang nicht nur eine Grundsatzdiskussion über die moralische Pflicht von Künstlern und Kulturarbeitern, sondern gerät auch persönlich in einen schwerwiegenden inneren Konflikt. Der äußert sich nicht zuletzt in seinem nervösen Blick, den die Kamera immer wieder imitiert, etwa wenn X. bei Yahaloms langen Erzählungen aus ihrem Leben gedanklich abschweift, aus dem Fenster in die Wüste schaut oder mit seinen Augen an ihrem Nacken hängenbleibt.

Gebt nur acht auf den Stil!

Die Kamera rollt regelrecht aus dem Geschehen, richtet den Blick in den Himmel und verliert bisweilen die Orientierung. Als X. allein durch die Wüste geht und laut „Be My Baby“ von Vanessa Paradis hört, scheint die Kamera als unsichtbares Gegenüber mit ihm zu tanzen, dreht sich wie er im Kreis, um kurz darauf abzuheben und ihn von oben zu beobachten. So fahrig und wechselhaft diese Kamera auch sein mag, so deutlich spürbar macht sie X.s Unbehagen der Situation und seinem Land gegenüber. Selbst mit seinem neu erlangten Rockstar-Status kann X. kaum etwas am grundlegenden System ändern.

Sein Publikum hält er später vor dem Screening an: „Gebt nur acht auf den Stil.“ Genau dieser kinetische Kamerastil ist es, der Lapids Filme grundsätzlich durchzieht und die Protagonisten über seine persönliche Geschichte miteinander verbindet. Auch Yoav in „Synonymes“ verband eine Hassliebe mit seiner Heimat, und nun ist X. Lapids Alter Ego. Die Direktheit, Aufrichtigkeit und Verzweiflung, mit der er hier unverblümt von staatlicher Zensur und Meinungslenkung erzählt, erreicht eine neue Qualität.

X. hält eine erboste Rede über die israelische Gewalt in Palästina. Doch trotz dieser sehr klaren Haltung ist „Aheds Knie“ kein politisches Pamphlet. Vielmehr hinterfragt der Film als Kunstwerk die Möglichkeit von Kunst angesichts ihrer Abhängigkeit von Institutionen, die „wahre“ Kunst unmöglich macht. X. kämpft im aktiven Beisein der Kamera mit der Frage, wann es sinnvoll ist, sich gegen Unterdrückung und Nationalismus einer Regierung zu stemmen und wann Nachgeben manchmal die bessere Option ist, um nicht gänzlich zu zerbrechen und die übergreifende Agenda zu gefährden.

Dieses Dilemma ist bisweilen schwer auszuhalten, und doch ist es seine unmittelbare Erfahrbarkeit, die Lapids Film zu einem nachhaltigen Erlebnis macht.

Erschienen auf filmdienst.deAheds KnieVon: Sofia Glasl (18.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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