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Filmplakat von All of Us Strangers

All of Us Strangers

105 min | Drama, Fantasy, Lovestory | FSK 12
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Adam (Andrew Scott) hat eines Nachts in seinem fast leeren Hochhaus im modernen London eine zufällige Begegnung mit seinem mysteriösen Nachbarn Harry (Paul Mescal), die seinen Alltagsrhythmus durchbricht. Sie kommen sich schnell näher und der sonst so introvertierte Adam vertraut sich dem einfühlsamen Harry schnell an. Er erzählt ihm von seiner Kindheit und von seinen Plänen über ein Buch, das er über sein Leben schreiben will. Dazu begibt er sich auf eine schwierige Reise in die Vergangenheit. Er fährt zu seinem Elternhaus, wo alles so zu sein scheint, wie er es zurückgelassen hat. Auch seine längst verstorbenen Eltern (Claire Foy und Jamie Bell) scheinen keinen Tag gealtert zu sein. Die Frage entsteht, ob Adams Einsamkeit und Trauer seine Realitätssinne beeinflussen, wenn er plötzlich seinen verstorbenen Eltern gegenübersteht.

Filmkritik

In der sechsten Etage eines Neubauturms mitten in London wohnt der einsame Adam (Andrew Scott). Der Drehbuchautor genießt den Blick auf die Millionenstadt, tippt zuweilen uninspiriert in seinen Computer und verbringt viel Zeit mit Träumen und Nichtstun. Eines Tages lernt er seinen jüngeren Nachbarn Harry (Paul Mescal) kennen. Die beiden kommen sich näher. Bald ist es Liebe.

Ein Prinz küsst den in seiner Trauer und Einsamkeit gefangenen Helden wach – wenn es sich denn wirklich so zugetragen hat. Man könnte den Spielfilm von Regisseur Andrew Haigh durchaus als märchenhaften Liebesfilm interpretieren. „Is this Love?“, singt Alison Moyet in dem stark von den 1980er-Jahren beeinflussten Soundtrack des Films, während die britische Popgruppe Frankie Goes to Hollywood symbolisch „The Power of Love“ beschwört. Doch ist Harry wirklich der beschützende Prinz? Und wie real ist die Liebe zwischen Adam und Harry in einem Traum- und Geisterfilm, in dem nichts ist, wie es scheint?

Alte Platten & Fotoalben

„All of Us Strangers“ ist vor allem ein Drama über Trauer und Schmerz. In der Figur des Adam bündeln sich diese beiden Elemente auf intensive Weise. Sie lähmen ihn und lassen ihn kaum ein normales Leben führen. Der Mann Anfang vierzig will ein Drehbuch über seine Kindheit schreiben, die, wie sich herausstellen wird, der Ursprung seines „Mal de vivre“ ist. Das Skript soll 1987 spielen, in jenem Jahr, als der elfjährige Adam seine Eltern durch einen Autounfall verlor. Adam hört alte Platten, stöbert in Fotoalben und findet ein Bild seines Elternhauses. Er fährt in den Londoner Vorort, wo es immer noch steht, und irrt scheinbar ziellos durch den Ort.

Dann geschieht allerdings etwas wahrhaft Erstaunliches. Der nostalgische Wanderer begegnet seinem Vater (Jamie Bell), der noch genauso aussieht wie früher und ihn prompt zu sich und Adams Mutter (Claire Foy) einlädt. Es folgt ein zunächst scheues, doch dann umso herzlicheres Wiedersehen. Die Eltern können ihre Freude kaum fassen, Adam als Erwachsenen kennenzulernen.

Dieses Zusammentreffen, das in der Fantasie des Autors Adam stattfindet, beflügelt ihn so sehr, dass er seine Eltern immer wieder aufs Neue aufsucht. Gefilmt sind diese Begegnungen wie reale Begebenheiten, die nur gelegentlich von verfremdenden Elementen in den Bereich des Traums verwiesen werden. Dabei verschwimmen nicht nur Imaginäres und Wirklichkeit, sondern auch die Zeitebenen. Einige Szenen erscheinen in einem spielerischen und von Freudscher Psychoanalyse gefärbten Licht, etwa wenn der erwachsene Adam im Kinderschlafanzug zu seinen Eltern ins Bett schlüpft. Bei den Gesprächen mit den Eltern erzählt er ihnen auch, dass er schwul ist, und schildert ihnen, wie er unter dem Mobbing seiner Mitschüler gelitten hat; die Sorgen seiner mit Vorurteilen behafteten Mutter um Diskriminierung und Aids kann er zerstreuen.

Reisen durch die Zeit

Die wiederholten (Fantasie-)Treffen mit den beiden Menschen, deren Verlust ihn im Leben am meisten geprägt hat, werden durch Zugfahrten eingeleitet oder beendet. Diese Zeitreisen erlauben Adam eine Trauerbewältigung, die er sich zuvor offenbar versagt hat. Andere Aspekte seines Kummers kommen in seinen Dialogen mit Harry ans Licht und verhelfen zu einem vollständigeren Bild von Adams Vergangenheit und Seelenzustand. Auch Harry öffnet sich gegenüber Adam und erzählt von seiner Außenseiterstellung in seiner sich tolerant gebenden Familie. Doch trotz der Verletzlichkeit, mit der er Adam begegnet, erscheint er wie dessen Fels in der Brandung. Er hört dem Älteren zu, tröstet ihn und bringt ihn nach Hause, nachdem dieser in einem Club unter Einfluss von Drogen zusammenbricht. Auch die Bebilderung der intimen und vertrauten Zweisamkeit der beiden Männer wird von Adams Erinnerungen unterbrochen. Manchmal gehen die Ebenen ineinander über, und Harry erscheint in der Rolle des reifen Beschützers, die Adams Vater nicht mehr ausüben kann.

Die Übergänge zwischen Wirklichkeit und (Tag-)Träumen erfolgen so natürlich, dass Mutter und Vater wie gleichberechtigte Figuren erscheinen. Auch der kaum bewohnte Hochhausturm, in dem Adam und Harry in verschiedenen Etagen wohnen, wirkt gespensterhaft. Die wiederholten Sequenzen mit Adam im Fahrstuhl unterstreichen ebenfalls sein Gleiten zwischen unterschiedlichen Zeit- und Bewusstseinsebenen. „All of Us Strangers“ basiert lose auf dem Roman „Sommer mit Fremden“ von Taichi Yamada, in dem das Geisterelement bereits zugrunde gelegt ist. Das Drehbuch erweitert die Handlung um die schwule Beziehung und die dazugehörige Symbolik. Adam und Harry trennen nicht nur etliche Jahre, sondern auch ein Selbstverständnis, das sich beispielsweise in der Interpretation der Begriffe „gay“ und „queer“ unterscheidet. Einmal meint man, dem Beginn einer Cruising-Szene beizuwohnen, doch es handelt sich nur um eine geschickte Finte. Auch die Poster in Adams Kinderzimmer und sein Musikgeschmack zwischen Pet Shop Boys und Frankie Goes to Hollywood deuten seine künftige Sexualität an.

In einem neuen Licht

Zudem fügt das Drehbuch der Geschichte eine weitere (mögliche) Geisterebene hinzu. Sie rückt die Beziehung der beiden Männer und damit auch die Machtverhältnisse zwischen ihnen in ein neues Licht. Wirklich gelungen oder gar notwendig ist diese Art künstlicher Realitätsebene zwar nicht. An der Grundstimmung des Films kann der Twist am Ende jedoch nicht rütteln.

Die Beziehung zwischen den beiden Männern filmt die Kamera von Jamie D. Ramsay zärtlich und sinnlich zugleich und erzählt damit eine schmerzliche, zu Herzen gehende Liebesgeschichte. Andrew Scott durchläuft als Adam alle Emotionen von Leid bis Erfüllung und beweist eine teilweise fast beängstigende Empfindsamkeit. Paul Mescal zeigt als einer der spannendsten jungen Schauspieler erneut eine für sein Alter erstaunliche Tiefe und Reife. Und Jamie Bell und Claire Foy überzeugen als Eltern, die durch ihren frühen Tod jünger sind als ihr mittlerweile über 40-jähriger Sohn.

Wichtig für die Katharsis des Protagonisten sind die 1980er-Popsongs des Soundtracks, darunter „Johnny Come Home“ von Fine Young Cannibals oder „Always on my Mind“ in der Interpretation der Pet Shop Boys. Sie illustrieren Adams von Nostalgie geprägte Erinnerungen an eine Zeit, in der er seine Eltern noch an seiner Seite wusste. Als Leitmotiv fungiert jedoch der mehrfach in Video und Ton gespielte Song „The Power of Love“ von Frankie Goes to Hollywood. Adam wird von Harry anfangs an die im Lied besungenen Vampire vor der Tür erinnert, welche die fast übermächtigen Ängste des Protagonisten symbolisieren. Doch die Macht der Liebe verscheucht die bedrohlichen Kreaturen. Und am Ende katapultiert eine von dem Song untermalte Traumsequenz in geradezu kosmische Dimensionen.

Erschienen auf filmdienst.deAll of Us StrangersVon: Kira Taszman (20.10.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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