Szene aus Belleville, belle et rebelle
Filmplakat von Belleville, belle et rebelle

Belleville, belle et rebelle

98 min | Dokumentarfilm
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Szene 1 aus Belleville, belle et rebelle
Belleville im Nordosten von Paris, geprägt von Migration, Handwerk und Revolte. Der Film ist eine poetische Hommage an das Quartier, mit Bildern wie ein Chanson. Im »Le Vieux Belleville« kommen sie zusammen: Minelle, die Sängerin, oder Robert Bober, der Schriftsteller, einst Regieassistent von Truffaut. Auch der Baske und Anarchist Lucio besucht regelmäßig das kleine Restaurant, das aus der Zeit und der Mode gefallen zu sein scheint. An diesem Ort, in den Erzählungen der Stammgäste und ihren Liedern, die von Liebe und Kampf handeln, manifestiert sich nicht nur die Seele von Belleville, sondern die des alten Paris.

Filmkritik

Auf dem Friedhof Père-Lachaise steht eine Kastanie, die schon zu Zeiten der Pariser Kommune dort verwurzelt war. Nur wenige Schritte davon entfernt haben Kämpfer von einst ihre letzte Ruhestätte gefunden, etwa Jean-Baptiste Clément, aus dessen Feder „Le Temps des cerises“ stammt – je nach Standpunkt ein Chanson über die Liebe oder die Revolution.

„Alle in Frankreich lieben dieses Lied“, weiß der alte Lucio und stimmt es auch gleich an, sehr zur Freude der umstehenden Touristen. Lucio, stolzer Exil-Baske, ehemaliger Maurer und überzeugter, zeitweilig auch militanter Anarchist, kommt ins Schwärmen, wenn er die Geschichten der Kommunarden erinnert. Er fragt sich, was gut 150 Jahre später von deren Ruhm und Zielen geblieben ist. Wo sind die Menschen, deren Herz links schlägt? Die sich stark machen für dieses „verfluchte Frankreich“, das er so sehr liebt? „Warum sind die Franzosen heute so reaktionär?“

Aus der Zeit gefallen

Ob Lucio Urtubia oft zu diesen Gräbern pilgert oder der Besuch ein Regie-Einfall war, weiß man nicht. Es spielt auch keine Rolle, denn der Friedhof führt einem die Vergänglichkeit von allem vor Augen und grenzt zudem fast an das Quartier de Belleville, ein altes Arbeiterviertel, in dem seit jeher viele Menschen leben, die nicht in Frankreich geboren sind.

Auch Lucio hat hier eine Heimat gefunden. Morgens im Café Le Vieux Belleville wird er mit Küsschen rechts, Küsschen links begrüßt. Hier, in den Gassen, wo der alte Herr durchs Fenster mit der Nachbarin plauscht und gusseiserne Balkone mit Blumen behangen sind, scheint die Welt noch in Ordnung. Am Nachmittag trinkt man einen Ricard, der Stammgast Florian ärgert sich darüber, dass er den gleichen Vornamen trägt wie der Rechtspopulist Philippot, und abends singen die Leute gemeinsam im Bistro Chansons von Edith Piaf, die angeblich auf einer Haustreppe in Belleville geboren wurde, von Fréhel oder Serge Gainsbourg. Das ist alles so pittoresk, heimelig und entrückt, dass man nicht erstaunt wäre, wenn der kleine Junge aus „Der rote Ballon“, den Albert Lamorisse 1956 in diesem Viertel gedreht hat, um die Ecke geschlendert käme. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Aber das stimmt natürlich nicht. Sie ist verlorengegangen, zumindest ein wenig für die Menschen, die Daniela Abke in ihrem Dokumentarfilm sehr stimmungsvoll in Schwarz-Weiß porträtiert.

Das Café Le Vieux Belleville

Joseph, Inhaber des Café Le Vieux Belleville, das Dreh- und Angelpunkt des Films ist, führt Steven, einen Schotten in Paris, auf die Straße hinaus, wo er als Kind gespielt hat. Dort oben hat man einen freien Blick hinab auf den Eiffelturm; in den 1960er-Jahren gab es an dieser Stelle noch einen Kiosk, einen Metzger und einen Bäcker an der Ecke. Doch dann kam die Abrissbirne. Auch das Haus, vor dem Simone Signoret in „Goldhelm“ (1952) von Jacques Becker in einer Pferdedroschke vorfährt, gibt es nicht mehr.

Dieses alte Belleville malt Steven nun auf die Wände des kleinen Bistros, in das auch der Schriftsteller und Filmemacher Robert Bober einkehrt. Bober begann als Assistent von François Truffaut und liebt alte Bilder und Stadtansichten, weil man darauf „wiederentdecken kann, was verschwunden ist“. Damals hielten die Fotografen fest, was sie um sich herum sahen. Heute erfüllen ihre Bilder die Betrachter mit Nostalgie, die auch dem Film anhaftet und der nun seinerseits etwas festhält, das in ein paar Jahren womöglich nicht mehr sein wird.

Doch davon bekommt man im Kino nur einen kleinen und bewusst gewählten Ausschnitt zu sehen. Der Film zeigt eine Welt, in der die Chansonette Minelle zu Akkordeon und klimpernden Armreifen singt oder Riton la Manivelle mit riesigem Schnauzbart im pausbackigen Gesicht und Baskenmütze auf dem Kopf den Leierkasten kurbelt. Aber man sieht nicht die Graffiti und die Street Art an den Häuserwänden, nicht die im Viertel ansässigen Chinesen, nur selten Jugendliche, die Fußball spielen oder auf der Straße rumhängen. Die Auswirkungen der Gentrifizierung kann man nur erahnen, weil heutzutage kaum ein Stadtviertel davon unberührt ist, schon gar nicht in Paris. Und augenscheinlich verläuft das Miteinander der Menschen in diesem Einwandererviertel komplett konfliktfrei. Man möchte es gerne glauben.

Zu eng für SUVs

Das Versprechen des Titels „Belleville. Belle et rebelle“, geht nicht ganz auf. Schön ja, in jeder Hinsicht, aber das Rebellische kommt ein wenig zu kurz, es sei denn, das Festhalten an lieb gewonnenen Traditionen und Lebensweisen, das bunte Nebeneinander reichen dafür bereits aus oder die ungebremste politische Arbeit von Lucio, der einst als Fälscher und Bankräuber von Interpol gesucht wurde, ein Kulturzentrum gegründet hat und mittlerweile mit 89 Jahren verstorben ist.

Gleichzeitig ist dieser Film aber auch so wohlig, dass man nur zu gerne darin eintaucht, weil Belleville seinem Namen alle Ehre macht, Joseph und all die anderen durchweg sympathischen Protagonisten voller Geschichten sind und man sich still der eigenen Sehnsucht hingeben kann nach Orten wie dem Le Vieux Belleville, wo Jung und Alt, Pariser und Touris zusammenkommen und essen, reden und tanzen, und nach einem Stadtviertel, dessen Gassen offenbar zu eng für SUVs sind. Vielleicht ist das allein schon Widerstand genug.

Erschienen auf filmdienst.deBelleville, belle et rebelleVon: Kirsten Taylor (21.12.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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