Szene aus Bis wir tot sind oder frei
Filmplakat von Bis wir tot sind oder frei

Bis wir tot sind oder frei

118 min | Drama | FSK 16
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Szene 1 aus Bis wir tot sind oder frei
Szene 2 aus Bis wir tot sind oder frei
Szene 3 aus Bis wir tot sind oder frei
„Wir werden alles ändern. Alles.“

Es sind die frühen 1980er-Jahre in der Schweiz – Rebellion liegt in der Luft. Die engagierte Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) will das rückständige Justizsystem von Grund auf umkrempeln. Sie vertritt Linksautonome wie die rebellische Heike (Jella Haase) und nutzt das Gericht als ihre Bühne. Eines Tages sucht der Industriellen-Sohn und Berufskriminelle Walter Stürm (Joel Basman), gerade mal wieder aus dem Gefängnis geflohen, ihren Rat. Der charismatische Stürm widerspricht allen Regeln, lebt bedingungslosen Egoismus und gerät dabei immer wieder mit dem System aneinander. Nicht nur Heike verfällt seinem jungenhaften Charme, auch Barbara fühlt sich zu ihrem Mandanten hingezogen. Als der Ausbrecherkönig erneut im Knast landet, kommt er in Isolationshaft. Und ausgerechnet Stürm, der keiner Ideologie anhängt, wird in linken Kreisen zum Symbol für Freiheit und die Würde des Einzelnen – und zum Objekt der Begierde zweier ungleicher Frauen.

BIS WIR TOT SIND ODER FREI von Regisseur Oliver Rihs basiert auf wahren Begebenheiten.
  • RegieOliver Rihs
  • Dauer118 Minuten
  • GenreDrama
  • AltersfreigabeFSK 16
  • IMDb Rating6.6/10 (0) Stimmen

Filmkritik

Zürich, 1980. Nachdem die Stadtregierung 60 Millionen Franken für die Sanierung des Opernhauses bewilligte, für die Forderungen der Jugend nach alternativkulturellen Angeboten aber kein Gehör bewiesen hat, versammeln sich am 30. Mai mehrere Hundert Jugendliche vor dem Opernhaus. Sie unterstreichen ihre Forderungen mit Sprüchen, Bannern, Farbbeuteln und Eiern. Die Polizei antwortet mit Gummischrot und Tränengas. Der Opernhauskrawall dauert zwei Tage lang. Er fordert mehrere Hundert Verletzte, verursacht Schäden in Millionenhöhe und markiert den Auftakt einer zweijährigen Phase, in welcher sich Frust und Wut der Schweizer Jugend über das repressive Establishment, fehlende kulturelle Freiräume und soziale Freiheiten nicht nur in Zürich immer wieder gewalttätig entladen.

Zusammen mit der demonstrierenden Jugend steht auch die Zürcher Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) auf der Straße. Sie ist Mitglied des Zürcher Anwaltskollektivs, das den Idealen der (damaligen) politischen Linken entsprechend sich für die wirksame rechtliche Vertretung der Schwachen engagiert. Die Preise sind moderat, es gibt offene Rechtsberatung ohne Voranmeldung, die Juristen haben sich ein Engagement für Arbeitnehmer, Frauen und Mieter aufs Banner geschrieben. Zur Klientel der Kanzlei gehören insbesondere Menschen, die in Konflikt mit der Repressionsmaschinerie des Staates geraten sind.

Der Ausbrecherkönig nutzt das Chaos

An einem der Sommertage, an dem in Zürich erneut Demonstranten und Polizei aneinandergeraten, gelingt dem „Ausbrecherkönig“ Walter Stürm (Joel Basman) zum sechsten Mal die Flucht aus der Haft. Als Polizist verkleidet, mit der eigene Strafakte unter den Arm, setzt er sich in ein Polizeiauto und braust mitten im tobenden Treiben davon. Bei einem „Abstecher“ zu einem Juweliergeschäft an der Bahnhofstrasse parkt er wenig später das Polizeiauto kurzerhand in der Schaufensterauslage. Die Flucht, der Einbruch und der Juwelenraub mitten am Tag sind „Stürm at his best“, ein dreister „Schelmenstreich“, der von der Unerschrockenheit, Cleverness und Intelligenz des Täters zeugt.

Wenn man im Falle eines Allzeit-Kriminellen wie Walter Stürm überhaupt von „Verdiensten“ für den Staat oder die Gesellschaft sprechen kann, wäre anzuführen, dass Schweizer Strafanstalten heute wegen Stürm um einiges ausbruchsicherer sind.

Während Stürm das Weite sucht, verspricht Hug Demonstranten, die von der Polizei festgenommen wurden, sich um sie zu kümmern. Zu ihren Schützlingen gehört auch Heike (Jella Haase), eine junge Deutsche mit Verbindungen zur terroristischen Roten Armee Fraktion (RAF). Bei der Gerichtsverhandlung liefern sich der Staatsanwalt Peter Rothenberg (Anatole Taubman) und Hug ein heftiges verbales Gefecht, in dessen Folge Hug im Saal zusammenbricht. Barbara Hug (1946-2005) litt zeitlebens an den Folgen eines missglückten medizinischen Eingriffs in der Kindheit. Sie war gehbehindert, auf Schmerzmittel angewiesen und musste, weil sie nur eine, noch dazu schlecht funktionierende Niere besaß, regelmäßig zur Dialyse.

Hugs Krankheitsgeschichte, ihre körperliche Versehrtheit spielen in dem Film von Oliver Rihs keine unwichtige Rolle. Nicht nur, weil sie Marie Leuenberger als Schauspielerin körperlich einiges abverlangt, sondern weil sie Hugs Radius einschränken und der Film dies auch immer wieder zeigt. Etwas zu kurz kommen dabei die Erklärung ihrer Ideale und Vorstellungen und die erbitterten Kämpfe, die sie gegen die in ihren Augen unhaltbaren Zuständen in der Schweizer Justiz führt. Diese werden oft auf Parolen und Schlagworte reduziert.

Die Anwältin und der Kriminelle

Es ist Walter Stürm, der sich Hug nähert, die nach ihrem Zusammenbruch auf einer Parkbank sitzt, und ihr seine Akte überlässt. Die Dokumente lassen sich als Diebesgut vor Gericht zwar nicht verwenden, doch sie enthalten Hinweise über die Zustände in Schweizer Strafanstalten, die für Hug von Interesse sind. Die Schriftstücke bringen die Anwältin auf die Idee, Stürm, der durch seine Ausbrüche und seinen lauthals geführten Kampf gegen die Isolationshaft seit Jahren in der Öffentlichkeit wahrgenommen und jüngst sogar von der Jugendbewegung gefeiert wird, zum Botschafter ihrer eigenen Angelegenheiten zu machen.

Sie übernimmt sein Mandat. Als er sie wenig später um Fluchthilfe bittet, fährt sie mit ihm nach Deutschland, in jene Kommune, in der die inzwischen aus der Schweiz ausgewiesene Heike lebt. Stürm beeindruckt Heikes Wohngenossen mit seinen Safeknacker-Künsten, verspricht ihnen 50 Sturmgewehre für den bewaffneten Widerstand und beginnt mit Heike ein Techtelmechtel.

Die Geschichte spinnt sich sprunghaft weiter. Stürm landet nach einem Banküberfall, bei dem sein Kumpel die Nerven verliert und gewalttätig wird, wieder in Isolationshaft. Er tritt in den Hungerstreik. Hug setzt sich für ihn ein, bringt ihm Schreibmaschine und Papier. Sie bittet ihn, seine Erinnerungen aufzuschreiben und seine Gedanken zum Verlust der Würde festzuhalten; die Qualität des Schweizer Birchermüslis wird dabei zum MacGuffin. Mit tatkräftiger Unterstützung aus Deutschland kommt Stürm erneut frei. Er setzt sich nach Spanien ab. Hug besucht ihn. Während eines Ausflugs ans Meer scheint die Sonne; für die beiden als Paar scheint alles möglich. Doch Stürm will diese „Scheißfreiheit“ nicht, schon gar nicht geschenkt von Barbara Hug.

Frei nach Stürms Autobiografie

„Bis wir tot sind oder frei“ lautet im Film die Überschrift von Stürms autobiografischen Aufzeichnungen, die Hug zu publizieren verspricht. Sie sind in Wirklichkeit nie erschienen, vielleicht auch gar nicht fertig geworden; so genau nimmt es der Film, der mit dokumentarischen Einblendungen beginnt, dann doch nicht. Ihm liegt die von Reto Kohler verfasste Stürm-Biografie „Stürm. Das Gesicht des Ausbrecherkönigs“ (2004) zugrunde. Das Drehbuch stammt von Oliver Rihs, Dave Tucker, Ivan Madeo, Norbert Maass und Oliver Keidel. „Bis wir tot sind oder frei“ ist temporeich inszeniert und kurzweilig; bisweilen blitzt hinter allem Ernst, den die Geschichte kennzeichnet, ein lakonisch-leiser Witz auf.

Die Beziehung von Stürm und Hug, im Film wohl um einiges romantischer dargestellt, als sie in Wirklichkeit gewesen sein dürfte, lebt von der schauspielerischen Chemie zwischen Basman und Leuenberger. Während Marie Leuenberger ihrer Figur eine fast schon männlich anmutende, derbe Ruppigkeit verpasst, überzeugt Joel Basman durch eine chamäleonartige Wandelbarkeit, die der Figur Stürms sehr zugutekommt. In der Darstellung von Stürm mögen zwar einige seiner Charakterzüge wie sein Ruf des Gentleman-Ganoven und sein Verhältnis zu Frauen etwas zu kurz kommen; auch hätte man gern mehr über Hugs Beweggründe und ideologische Überzeugung erfahren. Doch das sind Klagen auf hohem Niveau. Denn als Film, in dem sich die Karrieren und Lebenswege zweier Außenseiter, die sich unter „normalen“ Umständen kaum aufeinander eingelassen hätten, unhaltbar ineinander verflechten, ist „Bis wir tot sind oder frei“ durchaus gelungen.

Erschienen auf filmdienst.deBis wir tot sind oder freiVon: Irene Genhart (3.1.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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