Szene aus Breaking Social
Filmplakat von Breaking Social

Breaking Social

94 min | Dokumentarfilm | FSK 12
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Szene 1 aus Breaking Social

Filmkritik

„Meritokratie“, lautet das Zauberwort in dem essayistischen Dokumentarfilm „Breaking Social“ von Fredrik Gertten. Deren Niedergang, Aufkündigung oder Überlistung ist gewissermaßen der Sündenfall moderner Gesellschaften. In denen erfahren immer mehr Menschen, dass sich Leistung nicht mehr lohnt. Jedenfalls nicht für sie. Folgt man der kruden Erzählung von „Breaking Social“, dann birgt dieser Schmerz aber gerade die Hoffnung auf Veränderung.

Wie konnte es dazu kommen?

Gesetzt, man nimmt einmal an, dass es jemals wirklich, also jenseits der legitimatorischen Ideologie kapitalistischer Gesellschaften, eine Art von Gesellschaftsvertrag gegeben habe, demzufolge Leistungen im Sinne der Gemeinschaft adäquat in Form von Status entlohnt werden, dann forscht „Breaking Social“ nach den Bruchstellen dieser Ideologie in der Realität. Denn in Wahrheit hat sich ja das pure Gegenteil herausgebildet: ein international operierendes System von Superreichen, dass sich vorzüglich darauf versteht, das Sozialsystem zugunsten privater Profite auszupressen.

Was aber muss passieren, damit die Zivilgesellschaft auf offenkundige Missstände und Fehlentwicklungen mit einem „Aufschrei“, mit Aktivismus oder gar einem Aufstand reagiert? Der Film fragt exemplarisch nach: Wie konnte es dazu kommen, dass Bergbaureviere in Chile oder in West Virginia zu so enormen Umweltproblemen führten, dass die Wasserversorgung der Bevölkerung in Frage gestellt ist? Wie konnte sich in Malta ein System aus Steuervermeidung, Korruption und Privatisierung von Staatseigentum etablieren, dass die Journalistin Daphne Caruana Galizia ermordet wurde, als sie dem auf die Spur kam? Wie ist es möglich, dass Jeff Bezos sich einen 11-Minuten-Flug ins All gönnt und anschließend seinen Angestellten für die Ermöglichung dieser Erfahrung dankt, aber gleichzeitig eine Gewerkschaft bei Amazon verhindern will? Warum zahlen die reichsten US-Investmentbanker weniger Steuern als das Personal, das ihre Toiletten putzt?

Wer wird belohnt, wer ausgebeutet?

„Breaking Social“ registriert die Frustration und Wut der Unterdrückten. Der Film weiß um den Bruch des (fiktiven) Gesellschaftsvertrages, sucht aber nach Indizien der Veränderung und des Aufbegehrens, weil „Pessimismus und Zynismus“ ja keine Lösung sind, so Gertten. Insofern ist der Untertitel des Films „Können wir uns die Reichen leisten“ lediglich rhetorisch gemeint, wobei nicht so recht klar ist, wer genau sich „die Reichen“ leisten soll. Wenn diejenigen, die zum Sozialen etwas beitragen, dafür nicht belohnt werden, diejenigen aber, die dazu nichts beitragen, auf ihren Superyachten in den Sonnenuntergang segeln, nachdem sie die Gemeinschaft kleptokratisch ausgepresst haben, dann scheint der kritische Impuls des Films eher moralischer denn politischer Natur zu sein.

Man ahnt schon, dass „Breaking Social“ sich bewusst naiv stellt. Dazu passt auch, dass der Filmemacher schreibt: „Wir müssen auf das Kind in uns hören, auf den moralischen Kompass für richtig und falsch.“ Als Gewährsmann des Films sorgt der niederländische Historiker Rutger Bregman für eine Handvoll theoretischer Einsichten. Der hat sich eine freundliche Evolutionstheorie ausgedacht, nach der die Natur des Menschen schon in der Steinzeithöhle ein „Survival of the Friendliest“ gewesen ist. Also: Lieber drinnen in der Höhle kuscheln als draußen kämpfen.

Bildung ist keine Gefälligkeit

Bregman schwärmt von der „natürlichen“ Bescheidenheit und Empathie der Spezies. Der Aufschrei der Zivilgesellschaft als moralische Kritik der Verhältnisse führt, so Bregman, notwendig zu einer Veränderung, ja, zu einer Verbesserung. Zwar haben auch die Superreichen ein Gewissen, aber das führe systemimmanent lediglich zur Philanthropie. Um keine Steuern an den Staat zu zahlen, werde dann lieber eine eigene Stiftung gegründet, die sich um „Afrika“ oder „die Armut“ kümmere. Demgegenüber ist festzuhalten, dass ein funktionierendes Gesundheitswesen oder Bildung keine Gefälligkeiten, sondern Rechte sind, für die das demokratisch legitimierte Staatswesen stehe.

„Breaking Social“ spielt solche Überlegungen etwas kursorisch und oberflächlich durch. Der Film sammelt gewissermaßen Stimmen zu diversen Themen, will im Kern aber lieber von „The Power of the People“ erzählen. Und so werden Impressionen aneinandergereiht: vom Aufschrei der maltesischen Zivilgesellschaft nach der Ermordung der Journalistin Galizia, vom Kampf um eine chilenische Verfassungsreform und gegen den herrschenden Patriarchalismus, vom Ringen der US-amerikanischen Amazon-Arbeiter:innen um gewerkschaftliche Organisation und bessere Arbeitsbedingungen.

Momente der Hoffnung

Das lässt sich alles gut anschauen, trägt aber zu den angerissenen Fragen kaum etwas Tragfähiges bei. So unterschiedlich die sozialen Verhältnisse auf Malta, in den USA und in Chile auch sein mögen, scheint sie keine aufbegehrende Unzufriedenheit der Unterdrückten zu einen. „Breaking Social“ weiß dabei durchaus um das Mittel von Geld als Verhinderung von Kritik, weil das System durchaus in der Lage ist, seine Kritiker:innen „einzukaufen“; der Film setzt jedoch lieber auf Momente der Hoffnung, die Kommunikation von Erfahrungen der Empathie und der Solidarität.

Wer also solcherart gestärkt aus dem Kinosaal kommt und sich dieses positive Gefühl bewahren möchte, ist bestens beraten, zuhause nicht gleich nach „Verfassungsreform Chile“ oder „Anti-Korruptionsgesetz Malta“ oder „Amazon Mitbestimmung“ zu googlen. Um das gerade geweckte „Kind in sich“ nicht zu verstören.

Erschienen auf filmdienst.deBreaking SocialVon: Ulrich Kriest (15.11.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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