Szene aus Can and me
Filmplakat von Can and me

Can and me

85 min | Dokumentarfilm, Musik
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Szene 1 aus Can and me
1968 gründete die Musikerin Irmin Schmidt mit Freunden die Avantgarde-Band „Can“, die weltweite Berühmtheit erlangte. Auch als Komponist für Filme von Wim Wenders machte sich Schmidt einen Namen. In dieser Dokumentation blickt der charismatische Soundtüftler auf sein Leben und seine Karriere zurück.

Filmkritik

Erste, aber durchaus wichtige Frage: Kann man über die Krautrock-Klassiker Can noch irgendetwas erzählen, was andernorts nicht bereits tausendmal erzählt wurde in all den Jahren nach der ersten Auflösung der Band um 1978? Nach dem kurzen Comeback 1989? Nach all den Musikdokumentationen und Veröffentlichungen in den unterschiedlichsten Medien über Krautrock, Holger Czukay, Conny Plank etc. pp.?

Zweite, auch nicht ganz unwichtige Frage: An wen richtet sich eine solche Musikdokumentation, die gleichzeitig auch eine Art Porträt und Werkbiografie des Keyboarders, Dirigenten und Komponisten Irmin Schmidt ist, der als letztes noch lebendes Gründungsmitglied von Can gilt, weil andere noch aktive Ex-Bandmitglieder (Malcolm Mooney, Damo Suzuki, Rosko Gee) nur phasenweise dabei waren? Den Fans von früher wird man kaum etwas Neues erzählen können. Aber für Nachgeborene oder diejenigen, die Irmin Schmidt nach dem Ende von Can möglicherweise aus dem Blick verloren haben, könnte sich „Can and me“ durchaus lohnen.

Puzzleteile des kulturellen Aufbruchs

Zumal da sich die Filmemacher Michael P. Aust und Tessa Knapp nicht nur aus den prall gefüllten Archiven bedienen, sondern das Gespräch mit Irmin Schmidt, dessen Ehefrau und Managerin Hildegard und einigen Wegbegleitern suchen. Auf diese Weise weitet sich die Perspektive des Films und wird zum informativen Puzzleteil einer Oral History, die vom kulturellen Aufbruch in Musik und Film um 1968 erzählt.

Hierin ist Irmin Schmidt (Jahrgang 1937) in der Tat eine zentrale Figur. Als klassisch ausgebildeter Musiker und Stockhausen-Schüler nutzte er eine New York-Reise im Winter 1966, um Kontakt zur US-amerikanischen Avantgarde um La Monte Young, Terry Riley, Tony Conrad oder Steve Reich zu knüpfen. Zurück in Deutschland entwickelte er aus diesen Erfahrungen das Konzept einer Rockband, die keine Rockmusik spielt, sondern als Kollektiv von der Improvisation und der Intuition herkommt. Mit dabei: ein weiterer Stockhausen-Schüler (Holger Czukay), ein Free-Jazz-Schlagzeuger (Jaki Liebezeit), ein junger Rockgitarrist (Michael Karoli) und ein den Rhythmus liebender Sänger (Malcolm Mooney). Als „universale Dilettanten“ (Czukay) waren Can ein integrales Produkt der künstlerischen Aufbruchstimmung der 1960er-Jahre.

Ein Bein im Filmgeschäft

Schmidt verfügte zudem über Kontakte zur Theaterszene und verdiente nebenher Geld mit Filmmusiken, etwa für Sexfilme. Diese „Brotarbeit“ (Schmidt) führte dann zur Kollaboration mit gleichaltrigen oder jüngeren Autorenfilmern wie Wim Wenders, Roland Klick, Roger Fritz, Tom Toelle, Thomas Schamoni, Reinhard Hauff oder Samuel Fuller. Der größte kommerzielle Erfolg von Can war die Titelmelodie „Spoon“ zum Durbridge-Straßenfeger „Das Messer“; ein später Erfolg die Titelmelodie zum Kulturmagazin „Aspekte“.

Mindestens so spannend wie die Musik ist die Beobachtung, mit welcher Lakonie die Musiker die Erschöpfung ihrer kollektiven Kreativität konstatierten und das Projekt konsequent beendeten. Da Irmin Schmidt nach der Auflösung der Band weiterhin sein Geld hauptsächlich mit Filmmusiken verdiente, legt „Can and me“ hierauf großes Gewicht, wenngleich die einschlägigen Anekdoten um die Ablehnung von „Spoon“ durch Regisseur Rolf von Sydow oder die Nachtschicht für die Musik von „Alice in den Städten“ bekannt sind.

Doch der Film richtet sich in erster Linie ja nicht an Can-Nostalgiker; er versteht die Can-Jahre nur als eine Station unter vielen anderen in der Biografie von Irmin Schmidt. Da der Film in weiten Teilen chronologisch montiert ist, erfährt man auch etwas über Schmidts nicht unproblematisches Verhältnis zu seinen Eltern, über ehemalige Nazis im Schulwesen der 1950er-Jahre, über die Anfänge der Liebesgeschichte zwischen Hildegard Schmidt und einem jungen Musiker, der auch noch Flickflack konnte, über Köln und Stockhausen und über Schmidts grundsätzliches Verhältnis zu Stille und Klang. Bis heute veröffentlicht Irmin Schmidt immer noch regelmäßig neue Musik, zuletzt eine Reihe von Klavierstücken.

Angenehm unprätentiös erzählt

Sieht man von ein paar ausgestellt kunsthandwerklichen Montagen und Überblendungen im „Stockhausen“-Kapitel ab, dann ist „Can and me“ angenehm unprätentiös erzählt. Da die Eheleute Schmidt und die anderen Can-Mitglieder im Film derart reflektiert mit ihrer Kunst umgehen, wäre mancher prominente Kommentator des Can-Werks eigentlich verzichtbar gewesen. Denn zur „Pflege“ des Can-Werks, für die Hildegard Schmidt verantwortlich zeichnet, gehört eben auch, dass der Nachruhm der Band nicht verklingt. Sei es durch die permanente Neu-Edition der Tonträger, durch Remix-Projekte, „Lost Tapes“ aus dem Archiv, „Event“-Konzerte oder offizielle Würdigungen oder Auszeichnungen.

Auch wenn es im Musikgeschäft irgendwie dazugehört, wirken die wenig aussagekräftigen Kommentare von Brian Eno, Herbert Grönemeyer oder Gregor Schwellenbach eher überflüssig. Immerhin schließt sich ein Kreis, wenn Irmin Schmidt die Gelegenheit bekommt, eine seltsame, für großes Orchester arrangierte Musik mit Can-Motiven mit den Londoner Symphonikern selbst zu dirigieren. Vielleicht auch deshalb muss man sich Irmin Schmidt als glücklichen Menschen vorstellen, dem im Leben vieles geglückt ist und wohl immer noch glückt.

Erschienen auf filmdienst.deCan and meVon: Ulrich Kriest (15.11.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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