Szene aus DAS HAMLET-SYNDROM
Filmplakat von DAS HAMLET-SYNDROM

DAS HAMLET-SYNDROM

85 min | Thriller
Szene 1 aus DAS HAMLET-SYNDROM
Szene 2 aus DAS HAMLET-SYNDROM
Szene 3 aus DAS HAMLET-SYNDROM
Eine moderne Theaterinszenierung des Shakespeare-Klassikers ist der Ausgangspunkt für ein pulsierendes Porträt einer jungen ukrainischen Generation, die trotz aller Widrigkeiten ihr Land zum Besseren verändern will. Quelle: Medienboard
  • RegieVyacheslav Rudenko
  • Dauer85 Minuten
  • GenreThriller
  • TMDb Rating4/10 (5) Stimmen

Filmkritik

Am Anfang steht eine vage Idee: Shakespeares Hamlet, der sich entscheiden muss. Die junge Theaterregisseurin Rosa Sarkissjan sieht es so: „Ich möchte durch Hamlet und durch eure Geschichten verstehen, wofür wir heute im Leben kämpfen. Wenn wir fragen: Sein oder nicht sein? Machen oder nicht machen? Einen Kompromiss schließen oder nicht? Radikal sein oder nicht?“ Sie hat in Kiew ein Ensemble junger Schauspieler:innen um sich versammelt, um biografisches Erzählen zum Steinbruch einer künstlerischen Performance zu machen, die zusammengenommen vielleicht auch ein Porträt der nach 1989 in post-sowjetischen Zeiten geborenen „Maidan-Generation“ zu skizzieren. Geprägt vielleicht von zivilgesellschaftlichem Engagement und emanzipatorischen Energien, aber ganz bestimmt auch vom Krieg in der Ostukraine, an dem drei der fünf Protagonist:innen teilgenommen haben.

Probenarbeit & Erinnerung

Der Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski dokumentiert Ausschnitte aus der Probenarbeit für die Inszenierung, bei der es zunächst darum geht, Erfahrungen zu kommunizieren, die sich dann später szenisch verdichten lassen. Einer der Darsteller ist Roman, der 2015 seinen Wehrdienst an der Front als Sanitäter ableistete und eine posttraumatische Belastungsstörung davontrug, weil er als Schauspieler völlig unvorbereitet mit dem Sanitätsalltag im Krieg konfrontiert wurde. Slaviks Hamlet-Erfahrung lässt sich exakt auf den 21. Januar 2015 datieren, weil er bei der Schlacht um den Flughafen Donezk in Kriegsgefangenschaft geriet, gefoltert wurde und fast Selbstmord begangen hätte. In der konkreten Situation der Todesbedrohung habe er sich „frei“ gefühlt, gerade weil er nichts mehr entscheiden musste.

Den flamboyanten Rodion verschlug es wegen seiner politischen Haltung und seinen queerfeindlichen Erfahrungen im Donbass nach Kiew, wo er an der Theaterakademie studierte, als Stylist und Filmkostümdesigner arbeitete und sich in der LGBTQ-Community engagierte. Seine Perspektive auf die ukrainische Gegenwart unterscheidet sich deutlich von derjenigen Katyas, die bei den Maidan-Protesten aktiv war und bei Kriegsausbruch 2014 in einem der ersten Freiwilligenbataillone Fronterfahrungen machte, etwa indem sie Getötete einsammelte, damit sie begraben werden konnten. Die professionelle Schauspielerin Oxana sorgt hingegen für andere Perspektiven auf die aktuelle Ukraine, insofern sie dezidiert links-feministische Positionen vertritt. Während bei den drei mit Fronterfahrung die Hamlet-Formel „Leben oder sterben?“ lautet, steht Oxana vor der Entscheidung „Gehen oder bleiben?“

Schicht für Schicht

Dass die fünf einander und der Regisseurin ihre Erfahrungen erzählen und dabei Schicht für Schicht mutiger werden, verleiht dem Film durch seine performative Interaktion eine Intensität, die mittels der journalistischen Form des Interviews nicht zu haben gewesen wäre. Gerade weil nicht auf Fragen geantwortet wird, sondern die Traumata in Sprache und Gestik überführt werden, zeigt sich, wie sich die Gewalt der Menschen bemächtigt.

Der Rahmen der intensiven Probenarbeit wird durch Archivmaterial und durch zusätzliche Szenen aufgebrochen und erweitert, die die Darsteller in Alltagssituationen zeigen. So macht Katya Interviews, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren, während Slavik mit seinem Vater über Scham spricht und Rodion seine Mutter nach ihrer einstigen Homophobie befragt. Die Schauspieler und ihre Haltungen bekommen dadurch etwas mehr Kontur. Denn ihre Einstellungen und Widersprüche sind mannigfaltig. Oder wie es die Regisseurin Rosa Sarkissjan einmal formuliert: „Warum können wir uns hier nicht einigen? Wie sollen wir von unserem Land erzählen, wenn wir uns auf 20 Quadratmetern nicht einigen können? Und das unter Leuten, die auf der gleichen Seite der Front kämpfen.“

Tatsächlich sind die Konflikte und Widersprüche derart virulent, dass sie auch beim Publikum auf Resonanzen stoßen dürften. Wie hält man es selbst mit Symbolen, die patriotisch oder auch nationalistisch aufgeladen sind? Ist die alte Kritik der Linken an der Nation heute bereits eine Provokation, weil sie die Wehrkraft zersetzt? Wie steht es um den bewaffneten Patriotismus, der paramilitärische Freiwilligenbataillone befeuert? Wofür steht die Nationalflagge? Wie ist im Konfliktfall persönliche Freiheit zu werten? Gibt es patriotische Pflichten? Sind Erfahrungen an der Front höher zu werten als künstlerische Selbstverwirklichung? Ist es egoistisch, in Kriegszeiten aus Karrieregründen sein Land zu verlassen, dessen demokratische Mängel konkret zu fassen sind? Was bedeutet es, wenn man als Held gefeiert wird oder als LGBTQ-Aktivist an die Öffentlichkeit geht, wenn die ausgestellte Toleranz gleichzeitig das Entrée in die EU erleichtern soll?

In jeder Hinsicht potenziert

Viele der in „Das Hamlet-Syndrom“ thematisierten Diskurse und die daraus resultierenden Haltungen werden seit dem 24. Februar 2022 auch in Deutschland diskutiert. Wirklich beklommen aber macht, dass das Theaterprojekt und dessen filmische Dokumentation wenige Monate vor dem russischen Angriffskrieg entstand, dass die Protagonist:innen seitdem auf die eine oder andere Weise an Kriegshandlungen beteiligt sind und dass die im Film verhandelten Konflikte und Traumata nun in jeder Hinsicht unendlich potenziert sein werden. Und dass das „Hamlet Syndrom“ am Ende immer noch eines ist: große Kunst.

Erschienen auf filmdienst.deDAS HAMLET-SYNDROMVon: Ulrich Kriest (4.1.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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