Szene aus KINO IM BESTEN ALTER: DIE GOLDENEN JAHRE
Filmplakat von KINO IM BESTEN ALTER: DIE GOLDENEN JAHRE

KINO IM BESTEN ALTER: DIE GOLDENEN JAHRE

91 min | Drama, Komödie, Mystery
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Szene 1 aus KINO IM BESTEN ALTER: DIE GOLDENEN JAHRE
Endlich frei! Ausgelassen feiern die Eheleute Alice (Esther Gemsch) und Peter (Stefan Kurt) ihren Ruhestand und freuen sich auf die anstehende neue Lebensphase. Auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer – ein Geschenk der Kinder – wollen sie sich als Paar wieder näherkommen, so zumindest der Plan von Alice. Doch als Peter seinen kürzlich verwitweten Freund Heinz (Ueli Jäggi) ungefragt mit auf die Reise nimmt, ist es aus mit der erhofften Zweisamkeit und lange angestaute Eheprobleme treten ans Tageslicht. Nach einem Landgang in Marseille kehrt Alice kurzentschlossen nicht mehr an Bord zurück und nimmt sich eine Auszeit ganz für sich. Auf getrennten Wegen finden sie schließlich nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu einer neuen Art, ihre goldenen Jahre zu verbringen.

Filmkritik

Als „golden“ bezeichnet der Volksmund die ersten Jahre nach der Pensionierung. Es ist jene Zeitspanne, in der die meisten körperlich und geistig noch einigermaßen fit sind und nach und nach realisiert, für was man im Leben bislang keine Zeit fand oder. Ganz Mutige packen die Chance beim Schopf und fangen etwas Neues an.

Zu diesen Menschen gehören Alice und Peter Waldvogel nicht. Die beiden sind seit 42 Jahren verheiratet. Sie haben zwei erwachsene Kinder und drei Enkelkinder und leben in einem Einfamilienhaus außerhalb von Zürich. Peter hat die letzten 37 Jahre beim gleichen Unternehmen gearbeitet. Den roten Ballon, den er am Tag seiner Pensionierung zum Abschied erhält, lässt er auf der Treppe vor der Firma zum Himmel steigen. Im trauten Kreis von Familie und engsten Freunden feiert er am Abend in einem Lokal seinen 65. Geburtstag und die Pensionierung zugleich.

Einiges nochmals fragen

Es gälte, erklärt Alices beste Freundin Magali in einer launigen Festrede, sich anlässlich der Pensionierung einiges nochmals zu fragen. Etwa, ob man nicht zu viel gearbeitet habe, und ob man den Mut gehabt habe, sein eigenes Leben zu führen. Solche Fragen scheinen Peter und Alice fremd zu sein. Überhaupt scheinen sie kaum über die Zeit nach der Pensionierung nachgedacht zu haben. Deshalb klingelt Alices Wecker zu Peters Entsetzen wie all die Jahre zuvor pünktlich morgens um Punkt sieben Uhr. Und als Peter es sich nach dem Frühstück mit Kopfhörern und Laptop auf dem Sofa gemütlich macht, steht Alice unverhofft mit dem Staubsauger vor ihm und fordert, dass man die Hausarbeit fortan hälftig aufteile.

Peters Bedürfnis nach Entspannung und Entschleunigung steht dabei in krassen Gegensatz zu Alices Aufbruchstimmung und Abenteuerlust. Während er am liebsten zu Hause bleibt und sich mit seinem besten Freund – Magalis Mann Heinz – nachmittags bei einem Glas Whisky zu einer Partie Schach trifft, möchte Alice nochmals losziehen, auf die Pauke hauen, das Leben genießen und die Welt entdecken.

Es trifft Alice schwer, als Magali während einer gemeinsamen Wanderung an einem Herzinfarkt stirbt. Staunend entdeckt sie danach, dass Magali in Frankreich seit 15 Jahren eine Liebschaft hatte, die sie selbst ihr gegenüber verschwiegen hat. Schwierig und etwas bedrückend verläuft das nach der Beerdigung erste Abendessen mit Heinz, bei dem der frisch Verwitwete den beiden sich unablässig Zankenden vorhält, sie sollten sich doch freuen, dass sie noch zu zweit seien.

Zwei passen nicht mehr zusammen

Die Regisseurin Barbara Kulcsar erzählt all das nach einem Drehbuch von Petra Volpe relativ knapp und chronologisch. Es ist der Auftakt einer von leisen dramatischen Tönen durchzogenen Komödie, die den Start eines konservativen Schweizer Ehepaares in den dritten Lebensabschnitt schildert. Dass die beiden nach 40 gemeinsamen Jahren so gar nicht zusammenzupassen scheinen – oder vielleicht gar nie zusammenpassten –, schleicht sich als leise Ahnung in diesen Anfang.

Eine Mittelmeer-Kreuzfahrt sollte die Beziehung wieder ins Lot rücken. Doch zu Alices Missfallen hat Peter den trauernden Heinz zum Mitkommen eingeladen. Die Anspannung zwischen den Eheleuten steigt. Als Alice Peter eine Massage zur Entspannung anbietet und ihm dabei in den Schritt fasst, schließt er sich mit dem Hinweis auf Magenbrennen in die Nasszelle ein. Als sich Heinz beim ausgelassenen Tanzabend am Tag darauf frühzeitig in die Kabine zurückzieht, geht auch Peter schlafen. Alice bleibt trotzig allein zurück und schlägt sich die Nacht mit einer Mitreisenden um die Ohren. Von dem am nächsten Tag unternommenen Landausflug in Marseille kehrt sie kurzentschlossen nicht mehr aufs Schiff zurück.

Damit setzt in „Die goldenen Jahre“ die Transformation ein. War der Film bisher die liebenswürdige Schilderung einer aus dem Lot geratenen Beziehung, wandelt er sich nun zum leise emanzipatorischen Charakterporträt einer Frau Mitte sechzig, die realisiert, dass sie schon lang in ihrer Ehe feststeckt. Um sich weiterzuentwickeln, muss sie aus dieser ausbrechen. Auch davon erzählt „Die goldenen Jahre“ nicht in filmischer Übersteigerung, sondern, dem Charakter der Figur angepasst, angenehm zurückhaltend.

Schritte in eine neue Freiheit

Ausbrechen bedeutet hier zögerliche Schritte in eine neue Freiheit, die auch das Ertragen des Alleinseins bedingt. Alice kauft sich ein neues Kleid, reist eine Weile mit einem Aussteigerpaar im Camper durch Südfrankreich und kommt in einer abgelegenen Kommune schließlich hinter Magalis Geheimnis. Sie brauche vorerst Zeit für sich, lässt Alice Peter per Handy-Nachricht wissen. Als sie sich nach einer Weile wieder bei ihm meldet, antwortet er seinerseits mit denselben Worten.

Wie kommuniziert man miteinander, wenn man nach so vielen gemeinsamen Jahren feststellt, dass man sich zwar zugetan ist, aber nicht mehr auf der gleichen Wellenlänge bewegt? Dass man Bedürfnisse hat, die man im Zusammensein mit dem anderen nicht stillen kann? Und dass man den Partner im Alltag überhaupt nicht vermisst? Und wie soll das weitergehen, mit dem gemeinsamen Haus und der Familie, die man noch immer ist?

Auch wenn „Die goldenen Jahre“ nicht in der Tiefe schürft, wirft der Film doch ernsthafte Fragen auf, die sich Menschen in den Jahren, in denen sie nicht mehr jung und noch nicht alt sind, so oder ähnlich stellen. Im Falle von Alice und Peter Waldvogel erlauben finanzielle Sicherheit und die liberale Gesellschaft den Ausbruch und den Versuch einer neuen, beiden zugutekommenden unkonventionellen Lebensweise.

Wach und unvoreingenommen

„Die goldenen Jahre“ ist selbst in den auf dem Kreuzfahrtschiff Costa Smaralda auf dem Mittelmeer gedrehten Szenen kein großes Kino, sondern eine kleine, aber feine Emanzipationskomödie. Der Bildausschnitt ist oft eng gewählt, der Schnitt nicht raffiniert, die Erzählung gradlinig. Doch der Blick der Regisseurin auf die Figuren und das Geschehen ist wach und unvoreingenommen. Die unprätentiöse Inszenierung lässt auch den Darstellern viel Raum, sich zu entwickeln. Vor allem Esther Gemsch weiß diesen zu nutzen und vermag es, Alice im Laufe des Films von einer angestrengt munteren Mittelstandsgattin zu einer frei ihr eigenes Leben genießenden Mittsechzigerin zu verwandeln.

Aber auch Stefan Kurt überzeugt in der Rolle eines Mannes, dem mit dem Eintritt in den Ruhestand den Boden mehr unter den Füßen wegbricht, als er wahrhaben will. Und so finden sich Alice und Peter Waldvogel, obwohl sie nach wie vor nicht zu denen gehören, die mutig die Welt verändern, übers Jahr in einer ganz anderen Lebenssituation wieder.

Erschienen auf filmdienst.deKINO IM BESTEN ALTER: DIE GOLDENEN JAHREVon: Irene Genhart (2.2.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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