Szene aus Die Kunst der Stille
Filmplakat von Die Kunst der Stille

Die Kunst der Stille

82 min | Dokumentarfilm
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Szene 2 aus Die Kunst der Stille
Der erste Kino-Dokumentarfilm über den weltbekannten Pantomimen Marcel Marceau. Nur mit Gesten und Mimik hat er die die Menschen rund um den Globus berührt und begeistert. Doch der tragische Hintergrund seiner Pantomimennummern ist lange verborgen geblieben.
  • RegieMaurizius Staerkle Drux
  • ProduktionDeutschland, Schweiz
  • Dauer82 Minuten
  • GenreDokumentarfilm
  • TMDb Rating7.8/10 (2) Stimmen

Filmkritik

Wasser rauscht, unter der Oberfläche scheint ein Körper zu schwimmen, aus dem sich ein Arm und eine Hand formen. Diese Bilder führen ins Leben des großen Pantomimen Marcel Marceau. Sanfte Sphärenklänge leiten über zu Bip, der berühmtesten von Marceaus Kunstfiguren. Bip formt aus seinen Händen ein Herz und holt damit das Publikum zu sich heran, lädt es gleichsam in sein Leben ein.

Dieses Leben war ungewöhnlich. Marcel Mangel, so sein bürgerlicher Name, wurde 1923 im Elsass als Kind jüdischer Eltern geboren, die aus Polen und aus der Ukraine stammten. Er wuchs in Straßburg auf, wo er schon als kleiner Junge sein Talent andeutete, als er sich nach einem Kinobesuch eine Melone, einen Stock und einen Anzug besorgte und täuschend echt Charlie Chaplin imitierte. 1939 flüchtete er mit seinen Eltern vor den Deutschen nach Limoges ins westliche Frankreich. Vermutlich aufgrund eines Verrats wurde sein Vater verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet; seine Mutter überlebte. Marcel und sein Bruder Alain traten der Résistance bei und gaben sich den Familiennamen Marceau. Zu Marcels Aufgaben gehörte es, jüdische Kinder aus dem von den Deutschen besetzten Frankreich auf geheimen Wegen in die Schweiz zu bringen. Um die Kinder ruhig zu halten, unterhielt er sie mit den Mitteln der Pantomime. Auf diese Weise konnten alle gerettet werden – insgesamt mehr als 300 Kinder.

Bip und die „Mimodramen“

Nach der Befreiung wurde sein Talent schnell entdeckt, zuerst bei einem Auftritt vor US-amerikanischen Soldaten. Marceau trat der Compagnie von Jean-Louis Barrault bei und spielte seine ersten „Mimodramen“. 1947 schuf er Bip den Clown, der im Ringelpulli und mit weiß geschminktem Gesicht, einen zerknautschten Stoffzylinder auf dem Kopf, die Welt eroberte. Der liebenswerte Versager Bip wurde zu seinem Alter Ego, mit dem er bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2007 um die Welt tourte.

Doch wer war Marcel Marceau? Der Dokumentarist Maurizius Staerkle-Drux begibt sich in „Die Kunst der Stille“ auf die Reise durch das Leben des großen Pantomimen, der bis zum letzten Moment auf der Bühne stand und in seiner eigenen Pantomime-Schule unterrichtete. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Kindheit und der Jugend von Marceau, bei der die jüdische Herkunft der Familie eine ebenso tragische wie wesentliche Rolle spielt; sie trug viel zu seinem Schaffen bei und war vielleicht sogar die treibende Kraft dahinter. Marceau sprach aber nur selten über seine Vergangenheit. Seine Traumata, der jüdische Background und die Résistance-Erfahrungen waren lange Jahre ein wohlgehütetes Geheimnis.

Doch die Verbindung zum Tod war für Marcel Marceau selbstverständlich: „Ich sterbe sehr oft auf der Bühne“, sagt der alternde Künstler, „der Tod ist wie eine Metamorphose.“ Dafür steht auch das Wasser, das in dem biografischen Film eine wichtige Rolle spielt, in den Bildern wie in den Klängen, ein Symbol mit Ewigkeitswert, Abbild des Lebens, der Wiederkehr und der verstreichenden Zeit.

Kaum weniger poetisch, aber deutlich handfester ist dagegen der traurige Clown Bip, der zum Sinnbild des „kleinen Mannes“ wurde, ähnlich wie Chaplins Tramp, ein stummer tragikomischer Held des Scheiterns.

Ein melancholischer Träumer

Der Film präsentiert zunächst das beeindruckende Bühnen-Ich des Künstlers. In vielen Show-Ausschnitten und Fernsehbildern wird Bip lebendig: ohne Maske ein gutaussehender Mann, mit weißer Schminke ein melancholischer Träumer.

Doch es gibt auch einen neuen Bip, gespielt von Louis Chevalier, Marceaus Enkel. Der Tänzer holt den Pantomimen in Marceaus Clownsmaske in die Gegenwart und legt damit eine zusätzliche Ebene in „Die Kunst der Stille“ offen: die Kooperation von Marceaus Witwe, seiner beiden Töchter und Louis Chevalier, die gemeinsam an einem Kunstprojekt über Marcel Marceau arbeiten. Dass Louis Chevalier als Tänzer nicht über die pantomimische Präzision seines Großvaters und dessen verschmitzte Poetik verfügt, ist ebenso offensichtlich wie sein Wunsch, Marceaus Lebenswerk weiterzuführen. Seine Großmutter Anne Sicco, seine Tante und seine Mutter spielen ebenfalls wichtige Rollen. Doch sie erzählen wenig über Marceau als Persönlichkeit. Ihre gemeinsame Arbeit an dem Projekt über Marceaus künstlerisches Erbe ist zwar eine Inspirationsquelle für den Film von Staerkle-Drux, zugleich aber auch ein Hemmschuh für eine intensivere, kritische Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des großen Pantomimen. Denn Marceau war scheinbar so besessen von seiner Kunst, dass seiner Töchter ihn häufiger auf der Bühne als privat erlebten. Seine Maske machte ihnen allerdings eher Angst, als dass sie ihnen vertraut war. Eine Diskussion über diesen Zusammenhang findet aber kaum statt.

Staerkle-Drux bedient sich der klassischen Mittel einer Filmbiografie in Form von Archivaufnahmen, darunter wunderbare Bilder aus dem gerade befreiten Paris und zeitgenössische Fernsehbilder sowie Interviews mit Menschen, die Marcel Marceau kannten oder ihm nahestanden. Zusätzlich nutzt er Elemente des autobiografischen Dokumentarfilms, denn Christoph Staerkle, der gehörlose Vater des Filmemachers, der von Beruf Pantomime ist, spielt im Film ebenfalls eine wichtige Rolle. Er bringt eine zusätzliche Dimension in den Film ein: die umfassende Verständlichkeit der Marceau’schen Kunst und dessen Beitrag zu einem weltweiten Humanismus auf einer inklusiven Grundlage. Gleichzeitig verwandelt dieser Aspekt den Film auch in ein persönliches Bekenntnis des Filmemachers zu seinem Vater und dessen Kunst.

Viele Erzählstränge und ein alter Gefährte

Die vielen Erzählstränge – Vater Staerkle, die beiden Töchter, die Witwe, der Enkel, ihr gemeinsames Projekt und die neutrale Ebene der biografischen Schilderung – gewichtet Staerkle-Drux unterschiedlich, wobei der Bildschnitt inszenatorische Aufgaben übernehmen muss, die nicht immer konsistent sind. Ein wenig hat sich der Filmemacher bei „Die Kunst der Stille“ wohl doch übernommen. Die Folge sind kleinere und größere Irritationen, die allerdings durch die schiere Masse an Material meist überdeckt werden.

Einen wesentlichen Part in „Die Kunst der Stille“ übernimmt zudem ein Mann, der nur kurz auftaucht: Marcel Marceaus Cousin Georges, ebenfalls ein Résistance-Kämpfer und zum Zeitpunkt der Dreharbeiten über 100 Jahre alt. Er verkörpert die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Poesie und Realität – und erlaubt damit vielleicht den direktesten Zugang zum Leben und Wirken von Marcel Marceau.

Erschienen auf filmdienst.deDie Kunst der StilleVon: Gaby Sikorski (11.2.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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