Zum Hauptinhalt springen

Dreaming Dogs

Tickets
Szenebild von Dreaming Dogs 1
Szenebild von Dreaming Dogs 2
Szenebild von Dreaming Dogs 3
Ein Rudel von Streunern - sieben Hunde und eine Frau - lebt in den Schatten der Stadt Moskau. Von den totalitären Behörden verborgen, teilen zwei Spezies ihre Existenz am Rande des Verschwindens. Sie streunen in ständiger Unruhe durch eine wilde Landschaft, wo die Stadt in die Brüche geht. Aus der Perspektive der Tiere gedreht, beginnen die Muster von gegenseitiger Abhängigkeit und Zähmung zu zerfließen.

„Dreaming Dogs“ ist über weite Strecken im Nachtdunkeln gedreht. Ein Dokumentarfilm, vielschichtig und fast unscheinbar, wie ein roher Diamant. Entstanden an den Unorten einer Großstadt, dort, wo die Ansiedlung ausfranst. Wo sich die klaren Strukturen von Gebäuden, Plätzen und Straßen allmählich verlieren und in aufgelassene Fabriken und stillgelegten Industrieanlagen übergehen. Die Natur ist längst dabei, das von Menschen Erbaute allmählich zurückzuerobern. Fenster sind zerborsten, die Dächer lecken, Pflanzen tasten sich in die Gebäude vor. Im moorigen Boden verbirgt sich Industrieabfall; das wild sprießende Grün gaukelt eine fast schon naturidyllisch-heile Welt nur vor.

Diesen Übergangszonen haftet etwas Märchenhaftes und Magisches an. Als einzige Korrektur, die auf die Nähe der Stadt als Realität verweist, funktioniert die Geräuschkulisse. Das Summen des fernen Verkehrs, das Brummen einzelner Motoren in der Nähe, mitunter auch menschliche Stimmen, mal aus weiterer Ferne, mal relativ nah. An diesen prä- oder posturbanen Unorten – konkret haben Elsa Kremser und Levin Peter in Moskau gedreht – trifft man auf streunende Hunde und Menschen, die aus den gesellschaftlichen Strukturen herausgefallen sind: Arbeitslose, Migrant:innen ohne Aufenthaltsbewilligungen, amtliche Papiere oder festen Wohnsitz. Sie hausen in den verlassenen Gebäuden und provisorischen Hütten, wo sie sich notdürftig eingerichtet haben.

Eine Art Schicksalsgemeinschaft

Doch um Menschen und deren Schicksale geht es in „Dreaming Dogs“ nur bedingt. Wie schon in „Space Dogs“ (2019) nehmen die Filmemacher zumeist die Sicht von Hunden ein. Während „Space Dogs“ das Dasein einiger Moskauer Straßenköter dem Schicksal der ersten ins All geschickten Hündin Laika gegenüberstellte, kreist „Dreaming Dogs“ um die Frage, in welchem Verhältnis streunende Hunde und randständige Menschen zueinanderstehen und inwieweit sie voneinander abhängig sind.

Kremser und Peter verzichten weitgehend auf Kommentare. Sie erzählen weniger eine Story, als dass sie mittels der meist auf Augenhöhe der Vierbeiner geführten Kamera das Geschehen beobachten und Zustände schildern.

Im Zentrum steht Nadja, eine Frau mittleren Alters, die von sich selbst als „Oma“ spricht, sowie der fuchsrote Mischlingshund Dingo, der ab und zu seine eigenen Wege geht, aber doch immer wieder zu Nadja zurückkehrt, ohne dass diese sich als seine Herrin begreift. Im Nachspann wird Nadja als Nadezhda Sobetskaya mit vollem Namen erwähnt und neben Dingo acht weitere Hunde namentlich aufgeführt. Es ist ein ganzes Rudel, das sich um Nadja schart. Während eines am Feuer geführten Gesprächs erfährt man, dass Nadja aus Kasachstan stammt und dort bei einer Zeitung gearbeitet hat. Die Wirren der Zeit und das Schicksal haben sie nach Moskau geführt, wo sie offensichtlich hängengeblieben ist.

Im ersten Teil des Films gibt es noch einige wenige Freundinnen und Freunde, die sich regelmäßig bei Nadjas Unterkunft treffen und mit ihr zusammen nach Metall suchen, das man bei einer Sammelstelle zu Geld machen kann. In der zweiten Hälfte des Films ist Nadja mit den Hunden allein. Ihre Bekannten sind allesamt verstorben; ob infolge der Pandemie oder aus anderen Gründen, bleibt unerwähnt. Nadja stromert ihrerseits selbst im tiefsten Winter mit ihren Hunden durch die urbanen Twilight-Zones in Moskau. Sie versorgt die Hunde mit Futter, so gut sie kann, strolcht mit ihnen durch die Gegend und wagt gelegentlich auch Ausflüge in die Stadt. Nachts schlafen sie zusammen auf einer von Nadja zurechtgemachten Schlafstelle in einer lotterigen Unterkunft.

Dingo wartet bis zur Dunkelheit

Es fehlen die Männer, die das Dach flicken könnten, sagt Nadja. Sie redet nicht immer, aber manchmal mit sich und oft auch zu den Hunden. Ihre Gemütszustände ergießen sich dann über die Vierbeiner. Sie lobt, tadelt, zürnt und fährt sie auch harsch an. „Ihr könntet nicht überleben ohne mich“, sagt sie zu ihnen. Und: „Was würde denn aus euch werden, wenn ich ginge, wenn ich euch verlassen würde“?

Nadja hat ein Telefon, auf dem gelegentlich Bekannte anrufen. Einmal packt sie ihre Klamotten und Decken in zwei Säcke. Damit geht sie in die Stadt, wo sie hinter einer blauen Tür verschwindet. Während die anderen Hunde sich irgendwann davontrollen, bleibt Dingo – den sie manchmal zärtlich „Dingolein“ nennt – stundenlang vor der Tür stehen, ehe er nach Einbruch der Dunkelheit zur Hütte zurückkehrt und sich schlafen legt.

Kremser und Peter haben „Dreaming Dogs“ im Laufe von drei Jahren realisiert. Die Covid-Pandemie und der Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges haben die Dreharbeiten erschwert. Während sich die von Yunus Roy Imer geführte Kamera oft nahe an den Hunden bewegt, werden die Menschen, auch Nadezhda Sobetskaya, aus größerer Distanz gezeigt. Die Hunde reagieren auf Nadjas Redeergüsse nicht verbal. Aber ihre Haltung und ihre Blicke drücken durchaus aus, was sie fühlen. Auch geben sie manchmal Laut, winseln, japsen, bellen. Nicht selten sind sie allein unterwegs und strolchen durch die Gegend, wenn die Menschen noch schlafen, oder in der Dämmerung am frühen Morgen, wenn ein neuer Tag erwacht.

Erschütternd ehrlich

Wann immer Dingo seinen Namen rufen hört, taucht er irgendwann auf. Manchmal mit einer tiefen Wunde, die von Kämpfen zeugt, welche die Kamera nicht eingefangen hat und die Nadja, wenn auch nicht mit Medikamenten, so doch mit Worten zu heilen versucht. Ob sie mehr auf den Hund, oder der Hund mehr auf sie angewiesen ist, bleibt bis zum Ende dieses sehr feinfühligen, zugleich aber auch erschütternd ehrlichen Films das Geheimnis der beiden.

Veröffentlicht auf filmdienst.deDreaming DogsVon: Irene Genhart (30.10.2025)
Über filmdienst.de Filmdienst.de, seit 1947 aktiv, bietet Filmkritiken, Hintergrundartikel und ein Filmlexikon zu neuen Kinofilmen aber auch Heimkino und Filmkultur. Ursprünglich eine Zeitschrift, ist es seit 2018 digital und wird von der Katholischen Filmkommission für Deutschland betrieben. filmdienst.de