Szene aus Elaha
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Elaha

110 min | Drama | FSK 12
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Die 22-jährige Deutsch-Kurdin Elaha ist verlobt. Als die Hochzeit näher rückt, wird sie immer mehr mit den Erwartungen ihres Umfelds konfrontiert. Zwischen bedingungsloser Liebe zu ihrer Familie und dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben hin- und hergerissen, muss sie eine schwerwiegende Entscheidung treffen.
  • RegieMilena Aboyan
  • ProduktionDeutschland
  • Dauer110 Minuten
  • GenreDrama
  • AltersfreigabeFSK 12
  • Empfehlung der Jugendfilmjury
    14 - 99
  • IMDb Rating7.6/10 (73) Stimmen

Filmkritik

Sonnenlicht fällt durch ein vergittertes Fenster auf das Gesicht einer jungen Frau. Ihr Blick geht ins Leere. Die langen wallenden Haare verhüllen ihren nackten Oberkörper und lassen sie zugleich schutzlos wirken. Als sie sich direkt zur Kamera wendet, überträgt sich für einen kurzen Moment ein tiefer Schmerz aus ihren Augen auf die Zuschauer. Die Regisseurin Milena Aboyan schickt ihrem Debütfilm mit dieser kurzen, intensiven Sequenz eine Art Präambel voraus, die das Ausgesetztsein weiblicher Körper spürbar macht und durch den direkten Blickkontakt als Problem an das Publikum weitergibt.

Kurz darauf sieht man Elaha (Bayan Layla) auf einem traditionellen Fest strahlend in einem grünen Kleid. Als sie das Interesse eines jungen Mannes erregt und ausgelassen mit ihm zu tanzen beginnt, wird sie von ihrer kleinen Schwester zischend zum Tisch der Familie zurückbeordert. Dort ermahnt die Mutter Elaha, sich nicht unmöglich zu machen, schließlich sei dies nicht ihre eigene Hochzeit. Binnen Sekunden fällt die unbändige Energie der jungen Frau in sich zusammen, wie nach einem Stromschlag. Auf der Damentoilette sieht man sie wenig später heimlich Zigaretten mit ihren Freundinnen rauchen. Gerüchte gehen um, dass die gefeierte Braut ihren kleinen Bauch verstecke, obwohl sie das rote Band als Zeichen ihrer Jungfräulichkeit trägt.

Ein Zimmer für sich allein

In der deutschkurdischen Community, zu der auch Elaha gehört, werden patriarchale Traditionen noch immer sehr ernst genommen. Zugleich herrscht aber auch eine merkwürdige Doppelmoral. Wie alle anderen Zwanzigjährigen sehnen sich die lebenshungrigen Freundinnen nach Erfahrungen, vor allem mit dem anderen Geschlecht. Da jede sexuelle Handlung vor der Ehe aber potenziell Schande über die ganze Familie bringen kann, sind junge Frauen wie Elaha auf ein ausgeklügeltes System der Täuschung angewiesen, die unbedingte Solidarität zwischen ihnen verlangt. So wird genau ausgemacht, wer ein Alibi liefert, wenn eine von ihnen sich heimlich verabredet oder einfach nur High Heels bestellen will, die nicht nach Hause geliefert werden dürfen.

Der spontane Heiratsantrag des jungen Mannes, mit dem sie zuvor arglos getanzt hat, stellt Elaha allerdings vor eine ungekannte Herausforderung, bei der sie diesmal auf sich allein gestellt ist: Seine Familie verlangt einen ärztlichen Beweis ihrer Jungfräulichkeit, der sie kompromittieren würde.

Die Kameraarbeit von Christopher Behrmann konzentriert sich ganz darauf, der libidinösen Energie der Protagonistin Raum zu geben und die Widersprüche ihres engen, traditionellen Milieus offenzulegen, ohne es zu denunzieren. Besonders eindringlich zeigt sich dies in der Wohnung von Elahas Familie, wo es unmöglich ist, sich auch nur kurz allein in ein Zimmer zurückzuziehen. Wie eine Schlinge zieht sich die soziale Kontrolle immer enger um die junge Frau, die nach chirurgischen Eingriffen zur Hymen-Rekonstruktion recherchiert und gleichzeitig den eigenen Körper und seine Genussfähigkeit erforscht. Was zu Beginn noch als Schere im Kopf funktioniert, wird für Elaha zunehmend auch praktisch unvereinbar: Die tief verinnerlichte Identifikation mit den Werten ihrer Familie und die neu entdeckte weibliche Sexualität schließen einander auf bedrohliche Weise aus. Sich selbst zu finden, heißt die eigene Gemeinschaft zu verlieren.

Sinnlichkeit und Subjektivität

Während die Inszenierung die Figur von Elaha sehr vielschichtig und einfühlsam herausarbeitet, bleiben zentrale Figuren um sie herum allerdings zu sehr im Dunkeln. Gerade der durch eine Behinderung beeinträchtigte kleine Bruder deutet sich als zentraler Bezugspunkt an, der Elahas Schuldgefühle, die Familie zu verlassen, plausibler machen könnte. Auch der strenge Vater wirkt in seiner Hilflosigkeit eher schwach konturiert, obwohl es thematisch um die Dekonstruktion patriarchaler Strukturen geht. Vor allem in den Szenen, in denen Elaha Rat bei ihrer Lehrerin sucht, greift der Film zudem auf didaktische Strategien zurück. Dass diese dem Mädchen schließlich das Schwimmen beibringen muss, ist eine überdeutliche Metapher, die die innere Entwicklung der Protagonistin allzu schematisch illustriert.

Die intensive Leinwandpräsenz der syrischen Newcomerin Bayan Layla ist gar nicht darauf angewiesen, Dialoge über Chancengleichheit oder männliche Gewalt auszubuchstabieren. Sie entfaltet sich vor allem im großartigen Zusammenspiel mit Derya Durmaz, die als ebenso verletzliche wie gnadenlose Mutter für die aufschlussreichsten Momente des Films verantwortlich ist. Wenn diese ihrer Tochter ins Gesicht sagt, dass sie lieber ein totes Kind hätte als ein ehrloses, dann zeichnet sich in diesem Augenblick messerscharf die Identifikation mit der patriarchalen Autorität ab. Genauso wie in der Szene, in der sie Elaha offenbart, dass sie selbst lieber ertrinken würde, als um Hilfe zu rufen.

Selbstbestimmung des weiblichen Körpers

Auch wenn „Elaha“ als ausgiebige Milieustudie angelegt ist, stehen weniger die kulturellen Spezifika eines absurden Kultes um die weibliche Jungfräulichkeit im Vordergrund als vielmehr die generelle Frage nach Selbstbestimmung des weiblichen Körpers. Dass diese nicht nur ein einfacher Sprechakt ist, sondern eine komplexe und sinnliche Suche nach der eigenen Subjektivität, zeigt der Debütfilm von Milena Aboyan mit ebenso viel Kraft wie Eindringlichkeit.

Erschienen auf filmdienst.deElahaVon: Silvia Bahl (22.11.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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