Szene aus Voices of the Silenced
Filmplakat von Voices of the Silenced

Voices of the Silenced

87 min | Dokumentarfilm, Musik
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Alfama - das ist eines der ältesten und vor allem immer noch ursprünglichsten Viertel Lissabons. Céline Coste Carlisle lebt seit 20 Jahren in Portugal und stellt in ihrem mit Judit Kalmár gedrehten Dokumentarfilm die Künstlerinnen Ivone Días und Marta Miranda vor. Die beiden Frauen sind Fado-Sängerinnen und kämpfen mit ihrer Musik um die Nachbarschaft und die Gemeinschaft. Denn der heiß umkämpfte Wohnungsmarkt macht auch vor ihrem Altstadtviertel nicht Halt.
  • RegieJudit Kamár, Céline Coste Carlisle
  • ProduktionUngarn, Portugal
  • Dauer87 Minuten
  • GenreDokumentarfilmMusik

Filmkritik

Wer Fado noch nie live in einer portugiesischen Taverne, einer Tasca, gehört hat, könnte sich bei manchen Szenen in dem Dokumentarfilm von Judit Kalmár und Céline Coste Carlisle ein wenig wundern. Da sitzen Menschen bei einem Glas „vinho tinto“ beisammen, um mit bekümmerten Mienen einem herzzerreißenden Gesang in Moll zu lauschen, der von Gitarren begleitet wird. Niemand spricht, manche nicken oder schütteln wie unter einem stummen Seufzer langsam den Kopf. Andere falten die Hände und schließen die Augen, so wie die Sängerin, wieder andere beginnen, aus dem Dunkel der Kneipe heraus selbst eine Strophe zu improvisieren. Allgemeine Wehmut. Die Stimmung könnte also nicht besser sein.

Das ist der „gosto de ser triste“, der Genuss, traurig zu sein, wie die Portugiesen die Liebe zu ihrem ureigenen Musik- und Vortragsstil beschreiben. Kaum ist der letzte Ton verhallt, bricht fröhlicher Applaus aus; Sängerin und Publikum lächeln einander zu.

Im Würgegriff der Gentrifizierung

Seit 2011 gehört der Fado zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe. Ungefähr zur selben Zeit begann in Lissabon in atemberaubendem Tempo eine Entwicklung, die manche Portugiesen die „Disneylandisierung“ ihrer Hauptstadt nennen. Ausländische Investoren kaufen im großen Stil marode Altstadthäuser auf und verwandeln sie in Ferienwohnungen. Seitdem mussten tausende Einwohner in Außenbezirke umziehen. In den engen Gassen Alfamas, einem der Viertel, in denen der Fado entstand, ist nichts mehr vom einfachen Leben zu spüren. Dort ist der Fado heute meist nur noch eine Touristenattraktion. Doch es gibt es auch noch Fadistas, die an der ursprünglichen Idee festhalten und gegen die Vertreibung ankämpfen. 

„Saudade“, dieser mit Weltschmerz, Heimweh oder Sehnsucht zu übersetzende Begriff, ist das treibende Gefühl hinter dieser selbstreflexiven Musik, die wegen ihres reichen Wissens um die eigene Geschichte trotz allen Gefühls weniger naiv als sentimental zu nennen ist. „Ach, könnte ich wieder zwanzig sein“, singt Ivon Dias, eine schmale alte Dame mit grauem Kurzhaarschnitt. Nur um kurz darauf gutgelaunt in die Kamera zu sagen, dass sie sehr froh sei, nicht mehr zwanzig zu sein, denn so frei und gut wie heute habe sie als junge Frau nicht gelebt. Eine jüngere Kollegin, Marta Miranda, die ganz unorthodox auch Swing und Balkan in ihren fast tänzerisch vorgetragenen Fado mixt, erzählt hingegen, dass ihre geliebte Tasca, ein ehemaliges Kino, wegen der Investoren schließen muss. Sie lächelt, nicht froh, sondern verwindend.

Vom versäumten Leben in der Stadt

Kalmár und Carlisle unternehmen den spannenden wie überfälligen Versuch, die jüngste Geschichte dieser Stadt sozialgeschichtlich wie musikalisch zu begreifen. Dazu reizt schon der Name „Fado“. Aus dem lateinischen „Fatum“ für Schicksal hergeleitet, handeln die gesungenen Gedichte von Versäumtem und Erlittenem, vom prekären Leben in der Stadt, von Liebe und Schmerz, stolz ertragener Armut und vom Altwerden, oft aber auch vom Fado selbst.

Die Musik der einstigen Seefahrer-Nation stand immer schon im Spannungsfeld von Lokalem und Globalem. Oder, wie Andreas Dorschel einmal in der Zeitschrift „Merkur“ die „Ästhetik des Fado“ beschrieb: Fado sei eine Musik, die „lange und gründlich“ gelernt habe, „sich mit der Welt auseinanderzusetzen – auch wenn sie darüber wehmütig wurde“.

Man ist gespannt: Was macht die Widerstandskraft gegen und vielleicht sogar Kompatibilität des Fado mit heutigen Umbrüchen aus?

Dieser sich selbst so bewussten Kunstform scheinen die beiden Filmemacherinnen – Kalmár ist Journalistin, Carlisle lebt als Künstlerin seit 1999 in Portugal – ausgerechnet mit einem ausgestellten Glauben an naive Unmittelbarkeit beikommen zu wollen, ohne eine eigene Idee. Die fahrige Kamera von Gábor Halász weiß überdies oft nicht, wohin sie sich wenden oder worauf sie sich konzentrieren soll; der Montage will kein Rhythmus gelingen. Stadtpanoramen, Gesprächsfragmente, sich wiederholende Szenenbruchstücke aus Tavernen, Ausflüge in Außenbezirke, wo Vereine noch den Gemeinschaft stiftenden Fado zelebrieren, eingefangene O-Töne, ein ebenfalls eher richtungsloser Off-Kommentar: Die Dramaturgie erschließt sich immer weniger, je länger der Film sich hinzieht. Überdies irritiert die immer wieder mehrere Ebenen übereinanderlegende Tonspur. Ganz so, als vertrauten die Filmemacherinnen den Mitteln des Kinos weniger als ihrem Sujet, dem sie damit die Bürde auferlegen, als bloßes Rohmaterial für Form und Spannung zu sorgen.

Singen, damit andere uns hören

Dabei hätte allein die schon lang existierende Verbindung zwischen (portugiesischem) Kino und Fado Anhaltspunkte für spielerische Selbstreflexion geben können. Seit dem Stummfilm „Fado“ (1923) unter der Regie von Maurice Mariaud (1875-1958) prägt dieser Musikstil den Film, und mit Leitão de Barros’ „A Severa“ („Die Strenge“, 1931) über die Sängerin Maria Severa handelte auch der erste portugiesische Tonfilm vom Fado. Umgekehrt beeinflussten Kinoauftritte berühmter Fadista, allen voran Amália Rodrigues (nach deren Tod 1999 eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen wurde), das Bild von dieser Gesangskunst. 2012 listete die Ausstellung „Der Fado im Film“ im Fado-Museum Lissabon mehr als 120 portugiesische und internationale Werke zwischen 1923 und 2012 auf, in denen der Fado eine zentrale Rolle spielt.

Der Fado, sagt ein älterer Mann, sei „eine Geschichte. Und wir singen ihn, damit andere diese Geschichte hören“. Damit ist diese traurig-schöne Vortragsweise weniger in den Dienst der bloßen Unterhaltung und des Zeitvertreibs als in den einer gelingenden Kommunikation gestellt. Der Film schafft es allerdings nicht, die „Stimmen von Lissabon“ so vorzubringen, dass das Verstehen über die allgemeine Empörung über den „Overtourism“ hinausginge.

Erschienen auf filmdienst.deVoices of the SilencedVon: Cosima Lutz (10.2.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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