Szene aus Igor Levit – No Fear
Filmplakat von Igor Levit – No Fear

Igor Levit – No Fear

119 min | Dokumentarfilm | FSK 0
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Szene 1 aus Igor Levit – No Fear
IGOR LEVIT - NO FEAR begleitet den Pianisten bei der Erkundung seines „Lebens nach Beetho- ven“, bei der Suche nach den nächsten Herausforderungen, nach seiner Identität als Künstler und Mensch. Wir beobachten Levit bei der Aufnahme neuer Werke, der Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Tonmeister Andreas Neubronner, mit Dirigenten, Orchestern und Künst- lern, seinem intensiven Eintauchen in die Musik. Und immer wieder auch der Hinwendung zum Publikum, diesem unwiderstehlichen Wunsch zu teilen.
  • RegieRegina Schilling
  • ProduktionDeutschland
  • Dauer119 Minuten
  • GenreDokumentarfilm
  • AltersfreigabeFSK 0
  • TMDb Rating6/10 (4) Stimmen

Filmkritik

„In 4 nach G(ustav), bitte, wo die Geigen dieses subito fortissimo haben. Wenn Sie da das auch nicht mit einem Akzent spielen, sondern sofort wirklich voll schön losgehen, dann geht es so richtig auf. Ach, und Igor – du bist ein bisserl schnell in 173. Genau das sind keine Triolen.“

Proben sind immer auch ein wenig Tortur. Auch für den interessierten Beobachter, der fasziniert und unwissend dabei zuschaut, wie ein ganzes Orchester, hier das Gewandhausorchester Leipzig, auf Geheiß des Dirigenten, Franz Welser-Möst, an der richtigen Stelle in richtigem Tempo und Dynamik einsetzt, um mit dem Solisten, Igor Levit, in Ein- und Wohlklang zu kommen. Es ist spannend und befremdlich zugleich, wie aus Fragmenten, etwa Hans Werner Henzes „Tristan – Préludes für Klavier, Tonbänder & Orchester“, etwas Rundes und Wunderbares entsteht.

Absurde Läufe, flirrende Noten

Für den Klaviervirtuosen Igor Levit kommt es nicht häufig vor, dass er Proben mit einem großen Orchester verbringt. Normalerweise sitzt er allein auf der Bühne oder im Studio und gräbt sich in die Klavierstimme einer Beethoven-Sonate. Oder in Ronald Stevensons „Passacaglia on DSCH“, ein atemberaubendes, aber auch atemberaubend schweres Stück aus dem Jahr 1962, an dessen handspreizenden, flirrenden Notenfolgen Levit mitunter verzweifeln möchte. Aber er beißt sich durch, kriecht in die Systeme mit den absurden Läufen hinein und erschafft im besten Sinne Harmonie.

Erst dann ist der 35-jährige Musiker mit sich im Reinen und legt sich mitunter schon einmal flach und psychisch erschöpft auf den Boden der karg ausgestatteten Probenbühne. Levit zeigt gerne, wie er sich fühlt.

Für Igor Levit müsste man einen neuen Begriff erfinden: den eines „Emphatisten“. Wie sich der Musiker gibt, wenn er mit seiner Musik und seinen Liebsten in Einklang ist, zeigt schon die dritte Szene des dokumentarischen Porträts von Regina Schilling. Nach einem Prolog, in dem Levit seinen Flügel in die neue Wohnung geliefert bekommt und einem ersten Konzertauftritt mit den Beethoven-Sonaten in Amsterdam folgt nach gut neun Minuten diese zentrale Stelle des Films, die zeigt, wie Igor Levit „tickt“.

Zusammen mit seinem Tonmeister und väterlichen Freund Andreas Neubronner sitzt er in dessen kleinem, spärlich beleuchtetem Studio in Stuttgart über der Klavierpartitur einer Sonate. Beide hören sich die Einspielungen des letzten Tages an. Palavern, frotzeln, lauschen hochkonzentriert jeder Nuance der Abmischung. Am Schreibtisch passt lediglich Levits Handy zwischen die beiden. Aus dem Off hört man, was einmal Teil seiner Gesamteinspielung der 32 Beethoven-Sonaten werden soll. Die Kamera gibt vage einen Blick auf das Computermischpult im Licht der Schreibtischlampe und die im Halbdunkel verschwindenden Rücken der Protagonisten frei. Plötzlich aber sieht man im Umschnitt die beiden im warmen Licht der Lampe von vorn über die Partitur gebeugt, wie sie der Sonate Nr. 25 lauschen. Levit folgt dem Klang, indem er auf dem Unterarm von Neubronner die Tonfolge ganz behutsam mit den Fingern seiner rechten Hand tippt. Die Szene ist so intim wie authentisch. Sie zeigt Levit als „Emphatist“. Wenn er „drin“ ist, kann er mit seinen Gefühlen kaum haushalten. Er wird innig, fast schon anhänglich. Levit kann nichts einfach nur so machen. Es gibt kein „business als usual“, wenn es um Musik oder seine Freunde geht. Nur ein „ganz oder gar nicht“.

Levit entwickelt dabei ein unglaubliches Sendungsbewusstsein. Er will sich mit seinen Liebsten mitteilen, und er will seinen Lebensinhalt offenbaren. Das ist nicht nur die Musik.

Nur sein Handy hat noch Platz

Die Regisseurin Regina Schilling geht aus dieser Intimität mit einem schlichten „Super! Und jetzt mach’ ich eine ganz kurze Pause“ heraus. Während Neubronner in die Küche läuft, greift sich Levit sein Handy und twittert unter @igorpianist lakonisch in die Wellt: „Oh how I love Beethoven Sonatas…“

Igor Levit ist ein Ausnahmekünstler. Hochbegabt schon als Kind. Begnadet als Erwachsener. Er trägt seine Emphase am Klavier vor, wie sonst vielleicht nur Glenn Gould, der es „wagte“, bei seinen Bach-Einspielungen mitzusummen. Im Unterschied zu anderen Virtuosen geht Levit das Umziehen vor Konzerten eher auf den Keks. Er würde am liebsten in T-Shirt oder ganz in Schwarz spielen. Das ist eine Attitüde, aber sie ist nicht gestellt. All das wäre noch kein hinreichender Grund, über den charismatischen Künstler einen Dokumentarfilm zu machen. Doch Levit ist besonders. Als „Emphatist“ ist sein Handy sein zweitliebstes Spielzeug. Twitter und Instagram. Kein Tag vergeht ohne ein, zwei, drei Kommentare, Befindlichkeiten und Pointen. Seine Hauskonzerte, mit dem Handy aufgenommen, haben ihn während Corona psychisch am Leben gehalten.

Schilling spielt mit diesem Umstand, in dem sie ihn nicht nur beim Posten und bei Hauskonzerten beobachtet, sondern seine Tweets auch auf die Leinwand bringt. Natürlich tummeln sich auch andere Klassiker-Interpreten in sozialen Netzwerken. Als „Empathist“ nimmt sich Levit aber heraus, nicht nur in musikalischen Dingen etwas zu sagen. Seitdem er als „jüdischer Kontingentflüchtling“ (was für ein schrecklicher Begriff!) im Alter von sieben Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen ist, weiß Levit, wie steinig es ist, hier heimisch zu werden. Levit ist ein immens politischer Mensch, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Vielleicht war das der Grund, warum der Dokumentarfilm „Igor Levit – No Fear“ heißt. Regina Schilling macht daraus aber keinen politischen Film. Zwar gibt es ein Konzert für Waldbesetzer und eine aufregende Diskussionsrunde mit Wolfgang Schäuble, in dem der CDU-Politiker Ungeheuerliches von sich gibt. Schilling und Levit aber kontern diesen Affront mit einer großartigen Pointe.

Zehn Minuten Waldstein-Sonate

Es sind auch diese Momente, die „Igor Levit – No Fear“ adeln. Doch vor allem ist es die Musik. Zwei Stunden nimmt sich der Film Zeit – und man sollte bis zum „jüdischen Witz“ im Abspann bleiben. Zwei Stunden, die nötig sind, weil Schilling der Musik – und mit ihr der Emphase des Künstlers – genug Zeit zur Entfaltung gibt. So sieht und hört man den dritten Satz aus Beethovens Waldstein-Sonate, die Levit als Promo-Auftritt für seine CD-Einspielungen in der Willy-Brandt-Teamschule in Berlin-Mitte spielt. Knapp zehn Minuten ungekürzt und ohne Schnitt. Spätestens danach weiß man, was ein wirklicher „Emphatist“ ist.

Erschienen auf filmdienst.deIgor Levit – No FearVon: Jörg Gerle (8.2.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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