Szene aus IHRE ERGEBENSTE FRÄULEIN

IHRE ERGEBENSTE FRÄULEIN

Dokumentarfilm | FSK 0

Filmkritik

In dem japanischen Drama „Die Unschuld“ von Hirokazu Kore-eda streifen zwei zehnjährige Jungs durch die Botanik. Der eine zählt die Namen von Kräutern und Wildblumen auf. Der andere fragt, warum der Freund all diese Pflanzen kennt. „Na, weil ich sie mag!“ Liebe als Ursache für Wissen? Das irritiert den anderen. Er findet: „Jungs, die Blumennamen kennen, kommen nicht gut bei Mädchen an“.

Unter den Wissenschaften ist die bis heute mit Weiblichkeit assoziierte Botanik wohl diejenige, die gebildeten Frauen früherer Jahrhunderte noch am leichtesten Zugang zur Gelehrtheit gewährte, ohne dass die Frau damit riskierte, als männlich und also unschicklich zu gelten.

Den Prozess auch begreifen

Die Experimentalfilmerin Eva C. Heldmann hat in Filmen wie „fremd gehen“ (1999) oder „The Queen’s courtyard“ (2006) schon öfters Frauen porträtiert, die grenzüberschreitend leben und lieben und das auch reflektieren. Mit der Botanikerin, Malerin und Pädagogin Catharina Helena Dörrien hat sie sich eine auf den ersten Blick eher unerwartete Protagonistin ausgesucht. Die 1717 in Hildesheim geborene und 1795 in Dillenburg gestorbene Frau war gutsituiert, unverheiratet und kinderlos und sicher keine Rebellin. Sie tat nur das, was sie interessierte oder was sie konnte; darin wollte sie jedoch immer besser werden und den Prozess des Besserwerdens auch begreifen, um das Wissen darüber weitergeben zu können. Am Ende blickte sie mit Stolz darauf zurück, wie sie das alles hinbekommen hat.

Zu Lebzeiten war sie für ihre filigranen Darstellungen einheimischer Pflanzen berühmt. Einige der von Dörrien gezeichneten und kolorierten Pflanzen – von ihren rund 1400 Malereien sind nur noch ein paar Dutzend erhalten – haben sich seitdem offenbar erfolgreich in der Gegend halten können, wie Heldmann in Landschafts- und Nahaufnahmen zeigt. Wilde Möhre an Bahnsteigen, Johanniskraut an Böschungen: alles noch da. Auch wenn im Hintergrund sich Asphaltgrau ausbreitet und eine Frau mit Kopftuch einen Kinderwagen schiebt, während eine Verordnung über Kirchliches verlesen wird.

Ordnung, Fleiß & Sorgfalt

Gerade wegen der feminin assoziierten Botanik ist es eine kluge inszenatorische Entscheidung, Dörriens Briefe und Schriften von Elisabeth Gugel mit nüchterner, fast spröder Stimme lesen zu lassen. In den Beschreibungen ihres eigenen Werdegangs geht es nämlich nicht um die schwärmerische Liebe zur Natur oder die hingebungsvolle Fürsorge zu den Pflanzen. Alles kreist vielmehr um Ordnung, Fleiß, einen schonenden Umgang mit Dingen und Ressourcen und damit auch um das sinnvolle Nutzen der Zeit. Das gilt für die Gestaltung jedes einzelnen Tages, und in der Rückschau dann auch für das ganze, gelungene Leben, „wobei mir mein bisschen Genie zu Hilfe kam“. Die Empfindsamkeit mit ihren Herzensergießungen und melancholischen Anfällen scheint noch fern. Dörriens Bekenntnisse kennen keine Abgründe.

Ihre um Anstand und Genauigkeit bemühte Sätze bilden in diesem essayistischen Film aber nur den einen Pol. Ein anderes Schriftzeugnis sind fürstliche Verordnungen, aber auch Nachrichten, Jobangebote und Mietgesuche aus dem „Dillenburger Intelligenzblatt“, mit paternalistischer Strenge vorgetragen von Jochen Nix. Der damals das Fürstentum Nassau-Dillenburg regierende Fürst Wilhelm von Oranien erließ immer wieder neue Verbote, etwa ein „Verbot von Müßiggang und Faulheit“ oder eines gegen Bettelei. Jeder gesunde Erwachsene solle arbeiten. Wer sich weigert, soll in eine der zu gründenden „Spinnschulen“ eingewiesen werden. Spinnen wiederum, hört man von Dörrien, sei für Frauen eine sinnvolle Tätigkeit, insbesondere in den Wintermonaten, da man damit die Sicherheit habe, etwas zum Lebensunterhalt beizutragen. Nur die wirklich und unverschuldet Armen, liest man im „Intelligenzblatt“, sollen auf bürokratisch geregeltem Wege von der Kirche Hilfe erhalten.

Mausgerste & Acker-Gauchheil

Individuell-persönliches und amtlich-herrschaftliches Schreiben üben in der Montage den Schulterschluss und reiben sich aneinander. Bild und Ton sind manchmal sehr locker assoziiert, etwa wenn eine junge Ballettschülerin in einem klassizistischen Raum Spitzentanz übt: Zurichtungen des Mädchenkörpers zu schroffem Synthesizer-Schlagzeug. In anderen Momenten erzeugen Text und Bild fast polemische Eindeutigkeiten. Während die Kamera Alltagsszenen aus der verschlafen wirkenden Gegenwart von Dillenburg einfängt, wird eine grassierende Seuche im „Intelligenzblatt“ polnischen Juden angelastet und fahrendem Volk mit der Erschießung gedroht, weshalb der Fürst strenge Kontakt-, Einreise- und Beherbergungsverbote erteilt.

Trotz aller Fremdheit und des hohen, förmlichen Tons der verlesenen alten Schriften wirft die Moderne ihre Schatten voraus. Die Wälder und deren Erhalt sind im Vorfeld der Industrialisierung ein großes Thema, ebenso der Wohnungsbau; eingangs wird sogar die Frage gestellt, ob der Mensch nicht auch imstande sei, ein kaltes in ein warmes Klima zu verwandeln, da dies viel günstiger sei für die Fruchtbarkeit der Äcker. Nicht nur an deren Rändern, auch mittendrin wachsen auch heute noch Löwenzahn, Mausgerste und sogar Dorniger Hauhechel und Acker-Gauchheil.

Erschienen auf filmdienst.deIHRE ERGEBENSTE FRÄULEINVon: Cosima Lutz (24.2.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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