Szene aus Inu-Oh
Filmplakat von Inu-Oh

Inu-Oh

97 min | Drama, Animation, Musik
Szene 1 aus Inu-Oh
Szene 2 aus Inu-Oh
Szene 3 aus Inu-Oh
Szene 4 aus Inu-Oh
Vor 600 Jahren in Japan: Während politische Machtkämpfe toben, wird ein Kind mit einem verhexten Körper geboren und von allen wie ein Tier behandelt. Doch Inu-Oh entpuppt sich als begnadeter Tänzer! Aus dem Monster wird ein Popstar und bald stiehlt er den klassischen Tanzgruppen zu Hofe die Show – bis die Mächtigen beginnen, sich vor seinem Einfluss zu fürchten.

Filmkritik

Verflucht ist der Mann, der Japan in Aufruhr versetzt. Noch im Mutterleib deformiert ein Fluch seinen Körper. Schuppen entwachsen dem Rücken, der sich unter ihrer Last krümmt; ein Arm verkümmert, der andere verwächst zu ungeahnter Länge; der Schädel verbreitert sich, zerrt die Augen unmöglich weit auseinander. Als dieser Mann geboren wird und als ein Häufchen Elend auf der Erde landet, muss er sich selbst mit Hilfe seines gewaltigen Arms aus dem Staub ziehen.

Er beginnt sein Leben als Ausgestoßener. Das wahre Ich bleibt unter einer Maske verborgen. Er lebt draußen. Er teilt sein Essen, seinen Napf mit den Hunden. Einen Namen braucht er nicht, niemand spricht ihn an. Und doch verwächst der Name, den er sich schließlich gibt, Inu-oh, „König der Hunde“, untrennbar mit dem Japan des 14. Jahrhunderts und dessen Geschichte.

Aus der missgestalteten Kreatur, die nicht Mensch sein darf, wird ein Rockstar. Zur Hilfe kommt ihm dabei nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit, mit deren Hilfe er die Deutungshoheit über seine eigene verfluchte Geschichte zurückgewinnt. Der Film von Masaaki Yuasa dreht dafür gleich zu Beginn die Zeit rückwärts. Die Wolkenkratzer Tokios verschwinden, verwandeln sich zu Holzhäusern, die der große Brand von 1923 auslöscht; neue Holzbrücken erscheinen und schrumpfen im Rückwärtsgang der Ingenieurskunst zu primitiveren Formen zusammen; der Boden wird fruchtbarer, das Land feudaler, und schließlich bleibt alles mit dem Schritt eines Sarugaku-Theater-Tänzers stehen.

Ein Tänzer, der kein Tänzer sein darf

Es ist das Japan des 14. Jahrhunderts. Die Zeit von Akashi Kakuichi, dem legendären Lautenspieler, der dem zentralen Geschichtsepos, dem „Heike Monogatari“, seine bis heute bekannte Form gab. Das Epos erzählt vom Untergang des Heike-Klans, dessen Samurai bei der Seeschlacht von Dan-no-ura ihr Ende fanden. Auch Inu-oh wird das Epos hören. Nicht von einem der buddhistischen Mönche, die das „Heike Monogatari“ begleitet von Lautenmusik traditionell erzählen, sondern von den Geistern der Heike selbst, die den verfluchten Tänzer, der kein Tänzer sein darf, umschwirren. Ihr Wehklagen vom leidvollen Untergang, vom nicht gehörten Teil ihrer Geschichte bilden die Grundlage für eine radikale Neuinterpretation des Epos, mit der Inu-oh (gesprochen von Avu-chan, Sänger der Band Queen Bee) das Land in seinen Bann zieht.

„Inu-oh“ gestaltet das Epos, entlang der modernen Romanadaption des Schriftstellers Hideo Furukawa, zur radikal re-imaginierten Rock-Oper um. Die musikalische Erzählung der oft blinden buddhistischen Mönche, begleitet von der viersaitigen „Biwa“-Laute, wird durch eine absolut irre Sarugaku-Theater-Performance ersetzt, die so viele kulturelle Auswüchse, Spielarten und Eruptionen in sich vereint, dass sie in ihren Einzelheiten kaum fassbar erscheint. Doch auch ohne an die sozio-kulturellen Feinheiten anknüpfen zu können, ist diese Performance als Film eine überwältigend-bewegende, ekstatische Eruption.

Die Show, mit der Inu-oh durch das Land tourt, ist keine Solo-Nummer. Begleitet wird der maskierte Sonderling von Tomoha, einem Lautenspieler, der das Epos auf die traditionelle, an Kakuichis Musik angelehnte Weise erzählt. Wie der legendäre buddhistische Mönch ist auch Tomoha blind. Der Moment, der seinen Vater das Leben kostet, raubte ihm sein Augenlicht.

Kleine Lichtinseln in der Dunkelheit

Regisseur Masaaki Yuasa erzählt den tragischen Verlust zugleich als Geburt einer unbändigen kreativen Kraft, deren Eruption eine Energie entfesselt, die kaum ein Film zu kanalisieren im Stande wäre. Die ersten Geräusche durchdringen die Blindheit noch verhalten: Huftritte zaubern kleine Lichtinseln in die Dunkelheit, zeichnen den Weg eines geistigen Auges nach, das bald lernen wird, sich in der Welt des mittelalterlichen Japans zurechtzufinden.

Tomohas Hände lesen; sie tasten Buchstaben aus dem allumfassenden Schwarz ins Licht hinein. Als der Junge schließlich über einen blinden Mönch und damit direkt in sein Schicksal hineinstolpert, werden diese Hände auch das Spiel auf der Biwa, der viersaitigen Laute der musizierenden Mönche, lernen.

Tomoha, der blinde Junge aus Dan-no-ura, wird der Biwa-spielende Mönch Tomoiichi. Sehr zum Verdruss seines verstorbenen Vaters, der ihn als Totengeist regelmäßig aufsucht, um ihn an die Identität zu erinnern, die er mit der Entdeckung seiner musikalischen Fähigkeit abgelegt hat. Die Lebensausrichtungen liegen bei Tomoha wie bei Inu-oh im Clinch. Ein Duell, das immer neu und immer atemberaubend auf ästhetischer Ebene geführt wird. Als Tomoha zu Tomoiichi wird, kratzt die Dynamik seiner Musik kleine Farbschlieren in den Schleier der Blindheit und der Vergangenheit, offenbart die Formen, die für immer verloren schienen, und findet einen neuen Weg fernab der Rachegelüste des Vater-Gespenstes.

Die Geschichte zum Tanzen bringen

Als dieser Tomoiichi auf Inu-oh trifft, stößt seine Musik ein weiteres Mal in neue Sphären vor, und er selbst streift ein weiteres Mal seine Identität und seinen Mönchsnamen zusammen mit den tradierten Formen des Biwa-Spiels ab. Neu geboren als Tomoari, als androgyner Glamrock-Star (der Schauspieler und Tänzer Mirai Moriyama leiht ihm seine Stimme) bringt er, zusammen mit dem von Geistern umschwirrten Tänzer, Rockhymnen, Hip-Hop und alle denkbaren Formen musikalischen und tänzerischen Rausches ins mittelalterliche Japan. Die von ihnen zelebrierte Rock-Oper bringt die Phantome der Geschichte und schließlich die Geschichte selbst zum Tanzen.

Regisseur Masaaki Yuasa lässt Sarugaku-Theater, Biwa-Musik, Taiko-Trommelei und unzählige, in ihrer Komplexität, Anzahl und Vielfalt kaum fassbare Formen traditioneller japanischer Ästhetik nicht nur mit der Moderne, sondern auch anderen alternativen Auslegungen ihrer selbst kollidieren. „Inu-oh“ ist ein ästhetischer Hybrid, der wie seine Protagonisten einen ständigen Wandel durchmacht. Tomoari und Inu-oh wühlen sich durch ihre Werkphasen, legen Maske um Maske ab, um ihre Identität, ihre Geschichte und eben die Stimme zu finden, die sie auszudrücken vermag. Alte Identitäten werden abgeworfen, neue gefunden und wieder fallen gelassen. Hinter jeder Maske steckt immer nur eine neue Maske. Das eigene Dasein verdichtet sich nie in Richtung einer fertigen Identität, sondern wird wieder und wieder zerschlagen, um in neuen Formen in die Welt hinauszutreiben.

Ein kompromissloser Rausch

„Inu-oh“ ist kompromissloser Rausch, ähnlich wie „Mind Game“, Yuasas wohl bekanntester Film; besessen von Musik wie „Lu Over the Wall“ und viele andere seiner Filme; schwer verliebt wie „Night is Short, Walk on Girl“ und dabei so formvollendet wie bisher keiner seiner Arbeiten. Atemlos nimmt er neue Gestalten an, setzt neue Masken auf, schlüpft mühelos in neue Formen der Ästhetik, legt sie ohne Reue wieder ab, katapultiert sich tanzend in die wildesten Höhen von Mythos und Geschichte und findet doch, dem Rhythmus seines unwiderstehlichen Beats folgend, immer wieder auf den Boden zurück, den er seinem Publikum unter den Füßen wegzieht.

Erschienen auf filmdienst.deInu-OhVon: Karsten Munt (29.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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