Szene aus Justine
Filmplakat von Justine

Justine

82 min | Drama, Romanze
Justine (Tallulah Haddon) ist eine junge Frau, die zwar äußerst intelligent ist, aber auch einen starken Drang zur Selbstzerstörung hat.

Filmkritik

Ein Blickwechsel im Buchladen. Justine (Tallulah Haddon) erwidert das neugierige Starren der Studentin Rachel (Sophie Reid) und bringt sie aus der Fassung, als sie ein Buch klaut. Wie unterschiedlich die beiden jungen Frauen sind, sieht man schon an Kleidung und Körpersprache. Während die schroffe und burschikose Justine meist mit desinteressiert gesenktem Haupt durch die Straßen läuft, wirkt Rachel adrett, bürgerlich und ein wenig bieder.

Bei einem holprigen Gespräch, das auf ihre erste Begegnung folgt, treten die Unterschiede zwischen den beiden noch deutlicher hervor: Rachel will möglichst schnell ins Ausland; sie ist ehrgeizig und hat Träume. Justine weiß dagegen nicht, was sie will; und sie hat sich auch schon damit abgefunden, dass sie ohnehin nichts bekommen wird. Meistens besäuft sie sich so sehr, dass sie danach tagelang im Bett liegt. Ihr treuer Begleiter ist eine Wasserflasche, die sie regelmäßig mit Hochprozentigem füllt. Halbwegs geborgen fühlt sie sich lediglich mit ihrem Kumpel Peach (Xavien Russell), mit dem sie trinkt, klaut und vor allem nur das Allernötigste bereden muss.

Eine Liebe, die Mut erfordert

Der britische Regisseur Jamie Patterson erzählt in seinem Drama von einer Liebe, die Mut und Risikobereitschaft erfordert, aber an Justines innerem Widerstand scheitert. Das Mädchen mit den blonden Korkenzieherlocken und dem strengen Pferdeschwanz lässt sich zwar regelmäßig aus der Reserve locken, geht im letzten Augenblick aber doch auf Abstand.

Das tut sie nicht nur bei Rachel, sondern auch bei ihrer Therapeutin (Sian Reese-Williams). Auf die Frage nach ihren Träumen rekapituliert sie sarkastisch die klischeehafte heterosexuelle Laufbahn ihrer Mutter, inklusive Scheidung und anschließendem Mord durch den Ehemann. In Halbsätzen erfährt man trotzdem ein wenig von Justines Vergangenheit, dem Bruch mit ihrer Familie und der Zeit im Knast.

Der britische Küstenort Brighton wirkt in „Justine“ schrecklich grau und öde. Die außerweltlich gehauchten Indie-Songs von Polly Garter stehen dagegen für eine etwas klischeehafte Zärtlichkeit, die Justine nur zulassen muss. Oft unterstreicht die Musik, was ohnehin in der jeweiligen Szene zu sehen ist. Einen ausgelassenen Tag am Strand kommentiert ein Polly-Garter-Song als „perfect day“, einen Moment über Justines innere Zerrissenheit mit „the monster in me“.

Überdeutlich & arg simpel

Auch sonst wirkt der Film oft überdeutlich und etwas arg simpel gestrickt. Bevor Justine beispielsweise ihre Therapeutin auf ihren Hygienefimmel anspricht, ist gleich zweimal in Großaufnahme zu sehen, wie sie sich mit Desinfektionsmittel die Hände reinigt. In der Regel passiert genau das, was man erwartet.

„Justine“ gerät auch deshalb schwerfällig, weil die Inszenierung vieles schlicht voraussetzt, anstatt sinnfällig zu vermitteln. Was genau die beiden jungen Frauen aneinander finden und warum Rachel mehrmals zur selbstzerstörerischen Justine zurückkehrt, wird nicht einmal angedeutet. Auch lässt die fehlende Chemie zwischen den Hauptdarstellerinnen die behauptete Anziehung oder romantische Spannung missen. Besonders augenfällig wird das in einer leidenschaftslosen, unnötig in die Länge gezogenen Liebesszene, bei der sich die beiden gegenseitig entkleiden.

Eine lieblose Kindheit

Ähnlich diffus wie die Beziehung bleibt auch die schmerzhafte Unzulänglichkeit der Protagonistin. Nicht einmal ein Gespräch mit Justines Mutter (Kirsty Dillon) vermag die Ursprünge ihres Traumas zu erkunden. Statt psychologisch in die Tiefe zu loten, verharrt Patterson bei einem allgemein gehaltenen Vorwurf über eine lieblose Kindheit.

Lediglich die Hauptdarstellerin Tallulah Haddon  vermittelt durch ihre ständige Anspannung und die nervös suchenden Blicke etwas vom Dilemma der Figur. Wenn sie ganz am Schluss etwas über die Gründe ihres Alkoholkonsums durchblicken lässt, demonstriert sie, welches Potenzial in ihr steckt. Ein besseres Drehbuch und eine souveränere Regie hätten das zu nutzen gewusst.

Erschienen auf filmdienst.deJustineVon: Michael Kienzl (20.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
Über Filmdienst.de Filmdienst.de, seit 1947 aktiv, bietet Filmkritiken, Hintergrundartikel und ein Filmlexikon zu neuen Kinofilmen aber auch Heimkino und Filmkultur. Ursprünglich eine Zeitschrift, ist es seit 2018 digital und wird von der Katholischen Filmkommission für Deutschland betrieben. filmdienst.de