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Muddi - Zwölf Annäherungen an das Altern

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Im Bruchteil einer Sekunde, kurz vor seinem Tod, sieht SYNTAX IN SPACE’s Protagonist sein Leben wie einen Traum vor sich. Er sitzt im Backstage des Theaters einer verlassenen Stadt. Da erblickt er sich selbst, wie er als Kind in Rüstung, Harnisch und Visier auf sich zugeht. In dem Augenblick, in dem er sein Gesicht sieht, gibt er sich der Begegnung hin. Er geht in den Raum seiner inneren Landschaft und seiner Erinnerung; er sieht sich als jungen Mann in der Nähe einer Frau. Weiter in die verlassene Stadt wandernd stößt er auf die Geschichte seines Landes. Als er sich fragt: „Warum wachst du?“, spürt er ihre Verbindung zur Gegenwart und wacht auf mit der Gewissheit: „Einer muss wachen.“ In SYNTAX IN SPACE verschmelzen verschiedene Welten und ihre einzigartigen Sprachen zu einem Ganzen – durch die Kraft des gesprochenen und gebärdeten Worts, die Kraft von Körpersprache im Raum und die Kraft des Films. Gemeinsam formen sie das stille Enigma luzider Träume, das widersprüchliche Erleben der inneren Landschaft, durch die der von Lutz Förster verkörperte Protagonist in Gedanken wandert. In der Compagnie von Pina Bausch tanzte Förster über 40 Jahre ein Solo in Gebärdensprache und zum ersten Mal seit seinem Verlassen der Compagnie 2016 kehrt er für SYNTAX IN SPACE zu auf Gebärdensprache basierenden Künsten zurück – in Begegnung mit dem gehörlosen Tänzer Pierre Geagea und der jungen Tänzerin Alexandra Aidu. Gleichzeitig spricht er von der Wanderung des Protagonisten in den Worten von Heiner Müller, Franz Kafka und Fabiane Kemmann. Sie gliedern den Film in drei Akte, zu einem in Schichten komponierten Soundtrack von Nico van Wersch, gedreht in der nahe Berlin gelegenen, ehemals größten sowjetischen Militäranlage außerhalb der Sowjetunion, die heute verlassen ist.

Man kann „Muddi – Zwölf Annäherungen an das Altern“ von Sobo Swobodnik durchaus als eine Fortsetzung seiner autobiografischen Reflexion „Klassenkampf“ (2020) verstehen, jetzt allerdings bereichert um einen entschiedenen Perspektivwechsel. Wo es in „Klassenkampf“ noch darum ging, ob und wie man sich von der Familienerzählung distanziert und durch Bildung emanzipiert, führt „Muddi – Zwölf Annäherungen an das Altern“ jetzt zurück auf die Schwäbische Alb, wo der Filmemacher in proletarischen Verhältnissen aufwuchs.

Schweigen im Hause Swobodnik

Nach dem Tod des Vaters wurde bei der Mutter vor einigen Jahren eine beginnende Demenz diagnostiziert, verbunden mit dem Pflegegrad 3. Der Filmemacher begibt sich deshalb in die schwäbische Provinz und sammelt Impressionen aus dem Dorfleben ein. Er zeigt seine Mutter Erika beim Stricken, beim Gehen mit dem Rollator, beim Essen, Schlafen und der medialen Dauerberieselung. Auch bei Alltagsverrichtungen, etwa der täglichen Zeitungslektüre. Gleichzeitig macht sich Swobodnik, der im Bild erneut durch die Schauspielerin Margarita Breitkreiz vertreten ist, Gedanken, die in zwölf Kapitel eingeteilt sind. Gedanken zur Lebenswelt seiner Mutter, mit der ihn scheinbar nichts mehr verbindet. Auch nach dem Tod des Vaters kam es zu keiner Annäherung und zu keinem Gespräch. Ohnehin wurden Konflikte im Hause Swobodnik nicht mit Worten ausgetragen. Vielmehr wurde geschwiegen.

Swobodnik, der durchaus stolz ist, „sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Familiengeschichte gezogen“ zu haben, sucht auch jetzt nicht das Gespräch mit der Mutter, sondern lässt sich durch deren Ich-Auflösung zum Nachdenken „über das Altern“ inspirieren. Dabei geht er vom Autobiografischen aus, schweift aber auch gerne essayistisch ins Allgemeine und munitioniert sich mit Lesefrüchten von Didier Eribon über Norbert Elias, Jean Améry, Michel Foucault, Herbert Marcuse bis Rainer Maria Rilke. So unterstellt er der Kriegsgeneration, dass sie dem Mangel an Bildung durch die Aufwertung „ehrlicher Arbeit“ begegnet sei, wobei allerdings auch gelte, dass die Arbeit der Feind des Alters sei. Denn aufgrund ihrer wirtschaftlichen Nutzlosigkeit – der Filmemacher bezieht sich hier explizit auf Simone de Beauvoir – verlieren die Alten ihre Stimme und werden als Last empfunden – und empfinden sich vielleicht selbst auch als Last.

Groll, Wut, Scham

Den demografischen Wandel und die damit einhergehende Rentendebatte – die Politik wird für die Alten und gegen die Jungen gemacht – bekommt man mit diesen alten Denkmodellen zwar nicht in den Blick; dennoch müssen sich Swobodnik und sein Bruder Gedanken über die Organisation der Pflege ihrer dementen Mutter machen und Lösungen finden.

Reflexionen über Einschränkungen der Mobilität im Alter, soziale Teilhabe oder die Reduzierung des verfügbaren Bewegungsradius stehen Bilder der Mutter entgegen, die mit ihrem Rollator allein unterwegs ist und sich routiniert durch ihre Wohnung bewegt. Das soziale Umfeld scheint sie durch die Religion zu ersetzen. „Muddi – Zwölf Annäherungen an das Altern“ changiert so zwischen Beobachtung, einordnender Reflexion und Ressentiment – etwa beim Blättern in alten Fotoalben oder dem Öffnen von Kleiderschränken, die „Groll, Wut, Scham“ beim Filmemacher provozieren.

Vergeben versus Vergessen

Im Gegensatz zur dementen Mutter und auch im Gegensatz zum versöhnlichen Didier Eribon hält es Sobo Swobodnik lieber mit dem Autor Wolfgang Welt: „Ich vergebe alles, vergesse nichts!“ Auf welch abgründige und auch widersprüchlich-hintersinnige Reise der Film einlädt, macht ein Sartre-Zitat deutlich, das der Filmemacher als seine Maxime präsentiert: „Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was man aus dem macht, was man aus uns gemacht hat.“ Ob das auch für seine Mutter gilt, bleibt offen.

Veröffentlicht auf filmdienst.deMuddi - Zwölf Annäherungen an das AlternVon: Ulrich Kriest (3.12.2025)
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