Szene aus Orphea in Love
Filmplakat von Orphea in Love

Orphea in Love

107 min | Drama, Musik | FSK 12
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Eine junge Callcenter-Agentin verliebt sich in einen kleinkriminellen Straßentänzer. Sie ist Orpheus. Er ist Eurydike. Ihr Ausdrucksmittel ist der Gesang, er artikuliert sich durch seinen Tanz. Für ihre große Liebe steigt sie hinab in die Unterwelt, stellt sich ihren alten Dämonen und lernt wieder zu vertrauen.
  • RegieAxel Ranisch
  • ProduktionDeutschland
  • Dauer107 Minuten
  • GenreDramaMusik
  • AltersfreigabeFSK 12

Filmkritik

„Warum?“ – unter allen W-Fragen ist diese, wenn es um Film- oder auch allgemeiner Kunstkritik geht, die heikelste. Sie überhaupt nur zu stellen, wird gelegentlich schon als Anzeichen von Misstrauen aufgefasst. Sollte sich das „Warum?“ nicht quasi nebenbei aus der Beantwortungen der anderen W-Fragen (Wer?, Was?, Wie? …) ergeben? Andererseits ist das vielleicht nur ein Ausweichmanöver. Manchmal steht das „Warum?“ einfach wie ein Elefant im Raum und wartet darauf, von jemandem ausgesprochen zu werden.

Zum Beispiel, wenn in einer Szene in Axel Ranischs „Orphea in Love“ das Bühnenbild einer Opernaufführung um eine Toilette herum aufgebaut ist und der Regisseur während der Proben von der Sängerin verlangt, sich beim Singen nicht dem Publikum zuzuwenden, sondern sich über die – blitzblank polierte, also hygienische und eventuell sogar mit Heilerde gefüllte – Kloschüssel zu beugen. Da schreit dann tatsächlich jemand das „Warum?“ heraus; die Frage bleibt zunächst unbeantwortet, das Klo wird aber dennoch Teil der Aufführung. Was natürlich auch eine Antwort ist: „Warum?“ – „Warum nicht!“

Orpheus im modernen München

Warum nicht: Diese Haltung könnte auch am Anfang des Films gestanden haben, dessen Teil die Kloszene ist. Zum Beispiel: Warum nicht einfach mal Oper und Kino wild vermischen und schauen, was dabei herauskommt! Oder: Warum nicht einfach mal den Orpheus-Mythos in die Münchner Gegenwart verpflanzen! Und nicht zuletzt: Warum nicht den weltbekannten Mythos mit vertauschten Geschlechterrollen zur Aufführung bringen! Letztere Idee hatte allerdings vor zwei Jahren bereits ein anderer Film: Auch Khavn und Alexander Kluge verwandelten den tragischen griechischen Sagenhelden Orpheus in eine Orphea.

Ranischs „Orphea in Love“ ist eine Auftragsproduktion der Bayerischen Staatsoper, bei der auch die Hauptdarstellerin des Films, die Estin Mirjam Mesak, als Sopranistin unter Vertrag steht. Die zweite Hauptrolle übernimmt mit Guido Badalamenti ein professioneller Balletttänzer. In Nebenrollen sind hingegen vorwiegend Kinodarsteller:innen wie Tim Oliver Schultz, Christina Große und Ranisch-Regular Heiko Pinkowski (als eine ausgesprochen mephistophelische Kulturmanager-Figur) zu sehen. Gleich in der ersten Szene des Films kollidieren zwei komplett unterschiedliche Konzepte von Schauspiel: Orphea arbeitet in einem Callcenter. Ihre Chefin (Große) erwischt sie bei einem privaten Telefonat und macht sie vor versammelter Mannschaft nach Strich und Faden zur Sau, schüchtert Orphea auch körpersprachlich ein, äfft ihr Estnisch nach. Eine Bravura-Leistung des gesprochenen und verkörperten Worts, fast schon mehr Theater als Kino. Mesak antwortet – mit Gesang. Genauer gesagt mit Puccinis „Bevo al tuo fresco sorriso“, in das auch einer ihrer Kollegen mit einstimmt.

Die Musik ist ein Schutzraum

Das funktioniert, weil Orpheas Gesang nicht als Verfremdungseffekt angelegt ist. Sondern als natürliches Ausdrucksmittel einer Frau, für die die Musik ein Schutzraum ist vor der Realität, die sie sozial oft überfordert. Wie der Tanz das natürliche Ausdrucksmittel der Eurydikus-Figur ist, die allerdings auf den Namen Kolya hört: ein Straßenkünstler und Herumtreiber, der den ganzen Film über kein Wort spricht und in seiner exaltierten Körperperformance auch gegen die ihn umgebende kalte, unbarmherzige Gesellschaft opponiert. Kolyas erster großer Auftritt ist gleichfalls wunderbar: Orphea tritt aus einer U-Bahn-Haltestelle hinaus auf die Straße, Kolya schleicht sich erst über die Rolltreppe an sie heran und beginnt dann, erratisch um sie herumzutanzen, unbemerkt oder ignoriert von den übrigen Passanten. Dazu erklingt John Adams’ „Short Ride in a Fast Machine“ – eine moderne, post-minimalistische Komposition, die bereits andeutet, dass Ranisch auch in musikalischer Hinsicht auf Genregrenzen pfeift.

Tatsächlich fließen in „Orphea in Love“ nicht nur Oper und Kino ineinander, sondern auch mehrere hundert Jahre Musikgeschichte. Keineswegs beschränkt sich die Tonspur auf das traditionelle Opernrepertoire – schon gar nicht auf die klassischen Orpheus-Adaptionen von Monteverdi bis Offenbach. Vielmehr geht es wild hin und her, zwischen Barock und Gegenwart, Gospel und Wagner. Zur Orpheus-Geschichte wiederum passt das insofern, als auch der Mythos von der Überschreitung einer Grenze handelt: der zwischen Leben und Tod.

Revueartiger Reigen aus Einzeleinfällen

Was dabei freilich verloren geht, ist die tragische Fallhöhe. Wenn alle Grenzen immer schon offen sind, verliert die Überschreitung jeder einzelnen ihren Sinn. Tatsächlich orientiert sich der Film zwar lose am Mythos, zerfällt jedoch rasch in einen revueartigen Reigen aus Einzeleinfällen. Die, wie Einzeleinfälle es nun einmal an sich haben, mal mehr, mal weniger gelungen sind und sich auf die Dauer gegenseitig neutralisieren. Der um sich greifenden Beliebigkeit ist irgendwann nicht einmal mehr die phänomenale Hauptdarstellerin gewachsen. Nur zu gerne wären wir dieser schüchternen, großäugigen Alice im Opernwunderland in die tiefsten Tiefen und höchsten Höhen der Liebesmetaphysik gefolgt. Stattdessen macht sich alsbald die heikelste aller W-Fragen mit Nachdruck bemerkbar und will einfach nicht mehr verschwinden.

Erschienen auf filmdienst.deOrphea in LoveVon: Lukas Foerster (28.1.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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