Szene aus Disco Boy
Filmplakat von Disco Boy

Disco Boy

91 min | Drama, Kriegsfilm | FSK 12
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Nach einer schmerzhaften Reise durch Europa schließt sich der Weißrusse Alex der Fremdenlegion in Frankreich an und klammert sich an eine verwirrte Hoffnung auf eine europäische Identität. Der Nigerianer Jomo kämpft im Nigerdelta für das Überleben und die Beständigkeit seines Volkes und ist bereit, für seine Ideen zu sterben. Diese beiden jungen Menschen, die geopfert und zusammengeschlagen werden, werden sich allen Widrigkeiten zum Trotz treffen und ihre Schicksale verschmelzen, um über Grenzen, Körper, Leben und Tod hinweg fortzufahren ...

Filmkritik

Bordeaux, Crème Caramel, Pain au chocolat, Camembert! Das Bild von Frankreich, dem Ziel von Alexej und Michail, ist nicht sonderlich komplex. Beim Überqueren der Oder werfen sich die beiden jungen Männer, die sich in einer Gruppe Fußballfans von Belarus nach Polen geschmuggelt haben, die Begriffe wie Bälle zu. Vive la France! Als Alexej das Ufer erreicht, ein Patrouillenboot hat ihre Luftmatratze in die Tiefe gerissen, ist der Freund für immer verschwunden.

Wie kommt dieser illegale Migrant, der nichts besitzt außer ein paar Habseligkeiten in einer kleinen blauen Plastiktüte, nicht einmal eine Vergangenheit, die der Film mit uns teilen und der Figur etwas zum Festhalten geben würde (ein informierter „Leser“ seiner Tattoos wird später zumindest enthüllen, dass er ein Waisenkind ist und im Knast war), zu einer Geschichte mit dem schillernden Titel „Disco Boy“? Mit der Aussicht auf eine französische Staatsbürgerschaft schließt sich Alexej der Fremdenlegion an, nach seiner Vorgeschichte wird nicht gefragt. Anwälte, Geschäftsführer, Soldaten der Roten Armee, Faschisten: Bei der Legion sind alle gleich. Was zählt, ist nicht das „empfangene“ Blut, sondern das „vergossene“. So steht es zumindest in der Kasernenwand gemeißelt.

Zartheit in den Gesichtszügen

Der italienische Filmemacher Giacomo Abbruzzese filmt die Fremdenlegion, ähnlich wie Claire Denis in „Beau Travail“, mit einem faszinierten Blick für Körper. Anders als die soldatischen Körper im Kriegsfilm laden sie trotz Verausgabung und Schlamm im Gesicht geradezu dazu ein, ästhetisch betrachtet zu werden. Abbruzzeses Ansatz ist dem Actionkino jedoch weitaus näher. Eine längere, hochdynamische Sequenz, in der die Männer durch einen Wald rennen, bis ihre „Lungen explodieren“, erinnert an eine Treibjagd. Der Tanztheater-erprobte Darsteller Franz Rogowski ist für die Rolle des Alexej wie gemacht, auch die gröbste Schinderei sieht bei ihm noch geschmeidig und irgendwie tänzerisch aus. In seinem Gesicht findet sich bei aller Verschlagenheit auch etwas Zartes, Verletzliches, das ihn von den anderen, von einer dicken Testosteronwolke umgebenden Legionären unterscheidet.

In einem anderen, einem tropischen Wald, kämpft Jomo als Aktivist der Rebellengruppe „MEND“ (Movement for the Emancipation of the Niger Delta) gegen internationale Ölkonzerne und die nigerianische Regierung. Der Ortswechsel von Frankreich ins Nigerdelta schenkt dem Film seinen vielleicht irrsten Moment. Ein Motorboot, darin eine aufrechtstehende Frau mit der Haltung einer stolzen Königin, braust ins Bild und macht vor einer Gruppe vermummter Guerrillakämpfer Halt: „Hi, Guys, wir sind für ein Interview hier.“ Die Reporterin von „Vice“ ist beglückt, als die Männer mit ihren Maschinengewehren herumknattern und ihr spektakuläre Bilder für die Story liefern.

In wiederholten Luftaufnahmen zeigt sich das Ausmaß der Verwüstung: Mangroven, Sümpfe, Flussarme sind ölverseucht, rostige Pipelines liegen in der Landschaft, im Hintergrund rauchen die Schornsteine, Regierungstruppen brennen Dörfer nieder. Der Inszenierung geht es auch hier mehr um die optischen Reize der Apokalypse als um die verbrecherischen Verknüpfungen von globaler Wirtschaft und Politik. Der Perspektivwechsel bringt außerdem eine gewisse Exotisierung mit sich: In einer nächtlichen, wie aus einem kolonialen Fiebertraum entsprungenen Szene sieht man Jomo und seine Schwester bei einem beschwörenden Tanz. Schwarze Körper werden wie weiße Körper gefilmt: fetischisierend, als Schauwerte. Ein Bewusstsein über die Machtasymmetrie ist in die Blicke nicht eingetragen.

Der Blick durchs Nachtsichtgerät

Eine Geiselnahme führt die beiden Erzählstränge schließlich zusammen. Als eine Einheit der französischen Legion mit der Befreiung beauftragt wird, stehen sich Alexej und Jomo nachts an einem Fluss gegenüber. Den Zweikampf zwischen den beiden Männern filmt die Kamerafrau Hélène Louvart in einer betörenden Wärmebild-Sequenz, die aussieht wie reines Experimentalkino. Die Nachtsichtgeräte tauchen die Leinwand in leuchtende, sich bewegende Formen aus Blau, Orange, Gelb. Jomo kommt dabei ums Leben.

Nach der Rückkehr stürzen sich die Legionäre ins Nachtleben von Paris; auf Alexej aber hat sich ein Schatten gelegt. In einem Club stößt er mit zwei Gläsern Bordeaux auf seinen verstorbenen Freund an; Träume von Jomo holen ihn ein, eine afrikanische Tänzerin, die aus Nigeria geflüchtete Schwester des Toten, bannt ihn mit ihrem Auftritt. (Der aus Lagos stammende Tänzer und Choreograf Qudus Onikeku hat die Tänze entworfen).

Schamanistisches „Cinema du look“

„Disco Boy“ ist nun ganz im Raum des Phantasmas angelangt – und in einer Art transzendentem „Cinema du look“. Zu den pulsierenden Elektrobeats des französischen Techno-Musikers Vitalic findet im „Tempel“ des Clubs eine Verwandlung statt, eine Übertragung, eine Anverwandlung – die schrägen politischen Implikationen dieser Reinkarnation oder auch Einverleibung des schwarzen Körpers lassen sich schwerlich ausblenden.

„Disco Boy“ ist dennoch ein oft verführerischer Film, eine sensuelle Erfahrung, ein Kino der Oberflächen und Attraktionen, das Begriffe (Bordeaux, Diamantenhandel) und Kontexte (Migration, Identität, Fremdenlegion, Guerilla, Umweltzerstörung) wie affektive Reize streut und ganz in Körperbildern aufgeht.

Erschienen auf filmdienst.deDisco BoyVon: Esther Buss (8.2.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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