SCHOCKEN – EIN DEUTSCHES LEBEN
Unternehmer, Intellektueller, Büchermensch, Verleger, Mäzen, Ästhet – in ihrem Film „Schocken – Ein deutsches Leben“ spürt Noemi Schory dem Leben und Werk einer der visionärsten und kulturell engagiertesten Unternehmer-Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts nach. Exklusive Archivaufnahmen illustrieren eine historische Reise von Zwickau über Chemnitz, Crimmitschau und Berlin bis nach Jerusalem; Zeitzeugen und Schocken-Kenner berichten über die Bedeutung des Entrepreneurs für die jüdische Kulturgeschichte. Ein vielschichtiger Porträtfilm, der eine Brücke von frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart schlägt.
- Dauer113 Minuten
- GenreDokumentarfilm
- AltersfreigabeFSK 6
Filmkritik
In Zwickau beginnt um die Jahrhundertwende die unglaubliche Erfolgsgeschichte des Salman Schocken. Hier eröffnete der in Polen geborene und nur über vier Jahre Schulbildung verfügende Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie mit seinem Bruder Simon das Kaufhaus „Schocken“. Es folgten unzählige weitere Eröffnungen in Chemnitz, Cottbus oder dem im niederschlesischen Kohlerevier liegenden Waldenburg. Die Brüder wollen den Konsum demokratisieren und hatten Arbeiter als Kunden im Visier; die Waren mussten deshalb preisgünstig sein und die Bedürfnisse dieses Milieus ansprechen.
Nach dem Ersten Weltkrieg kamen weitere Filialen im Westen dazu, in Stuttgart, Nürnberg oder Augsburg. Das fortschrittlich geführte Unternehmen, das als Architekten immer wieder den in der Moderne verwurzelten Erich Mendelsohn engagierte, errichtete für seine jungen Verkäuferinnen Erholungsheime und baute eine Angestelltensiedlung in Zwickau; in einer der Wohnungen tauchte in den Nullerjahren die NSU-Terrorzelle unter.
Der Autodidakt und die Literatur
Neben der geschäftlichen Expansion widmete sich der Autodidakt Salman Schocken intensiv seiner eigenen Bildung. Er gründete einen Verlag, in dem Kafka, Heine, aber auch Bücher auf Hebräisch erschienen, sammelte kostbare Erstausgaben und förderte jüdische Schriftsteller, etwa Samuel Joseph Agnon, der 1966 als erster hebräischer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhielt.
1934 emigrierte Schocken nach Palästina, wo er zum zweiten Mal einen Verlag gründete, seine Büchersammlung aus Deutschland rettete und in seiner Villa in einer von Mendelsohn entworfenen Bibliothek unterbrachte. 1937 kaufte er die liberale Zeitschrift „Haaretz“, die heute von seinem Enkel Amos Schocken geführt wird, und verkehrte in deutsch-jüdischen Intellektuellen-Kreisen, einer Oase der europäischen Kultur.
Wirklich heimisch wurde der „Kulturzionist“, wie er sich selbst nannte, auch hier nicht. Schocken ging eine Zeit lang in die USA und gründete einen dritten Verlag, dessen Herausgeberin anfangs Hannah Arendt war. Danach zog er in die Schweiz, wo er 1959 starb.
Ein perfektionistischer „Renaissance-Mensch“
Die Dokumentation „Schocken – Ein deutsches Leben“ von Noemi Schory folgt diesem Lebensweg eines Unangepassten, der überall zwischen den Stühlen saß, entlang aus dem Off vorgelesener Zitate und Brief-Korrespondenzen, mit zeitgenössischen Originalaufnahmen und (Foto-)Animationen, in denen sich die Angestellten wieder durch die heute noch in Ostdeutschland liegenden leeren Warenhaus-Gebäude bewegen. Neben Enkeln und Schwiegertöchtern, die alle in Israel leben, kommen israelische Literaturwissenschaftler und deutsche Historiker zu Wort.
Die Faszination der Regisseurin für die Vielseitigkeit Schockens spürt man in der Art, wie sie von dem perfektionistischen „Renaissance-Menschen“ erzählt, in langen Einstellungen, die über Bücherregale gleiten, sorgfältig recherchierten Archivaufnahmen, von Nazi-Aufmärschen bis zu den Kaufhaus-Eröffnungen, die Menschenmassen anzogen.
Der Versuch, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden, gerät etwas didaktisch, wenn Zwickauer Schüler und Lehrer fordern, die Schrecken des Holocaust dürften sich nie wiederholen. Gelungener sind die Einblicke in den heutigen Redaktionsalltag von „Haaretz“, wo Journalisten und Journalistinnen kontrovers darüber diskutieren, wie sich ihr Berichtsethos seit Schocken verändert hat, etwa in der Frage der von der Redaktion abgelehnten Siedlungspolitik.
Wenn einer der Enkel, ein Architekt, von seinem „preußischen Opa“ erzählt, der keine Unordnung duldete, selbst stumm aber eine überaus expressive Aura verbreitete, dann fühlt man sich diesem zähen Unbeugsamen, der mehrfach von vorne beginnen musste, nahe und versteht, warum sich der leidenschaftliche Goethe-Leser in Palästina und später in Israel trotz engster Verbindungen als fremd empfunden hat.