Szene aus Sechs Tage Unter Strom - Unterwegs in Barcelona
Filmplakat von Sechs Tage Unter Strom - Unterwegs in Barcelona

Sechs Tage Unter Strom - Unterwegs in Barcelona

85 min | Komödie, Dokumentarfilm | FSK 6
Szene 1 aus Sechs Tage Unter Strom - Unterwegs in Barcelona
Es ist ein dreckiger Job, aber jemand muss ihn tun. In der spanischen Komödie geht es um drei Handwerker, die im Verlauf ihrer Arbeitstage mit sehr exzentrischen Menschen zusammentreffen, so dass es mit der Zeit immer absurder wird. Regisseurin Neus Ballús erzählt ihre Geschichte mit leisem, hintergründigem Humor und entwaffnender Leichtigkeit.

Filmkritik

Zwei Männer halten sich in einem Badezimmer auf. Der eine kommentiert die Gegenstände auf der Ablage, stellt sich auf die Waage und flucht über sein Gewicht. Der andere liegt unter dem Waschbecken, grummelt Unverständliches und hält dann ein kaputtes Rohr in die Höhe. Ganz offensichtlich befinden sich die beiden in einer fremden Wohnung. Der redselige Valero (Valero Escolar) und der ältere Pep (Pep Sarrà) sind Installateure. Als Klempner und Elektriker sind sie bei einer Firma in Barcelona beschäftigt. Pep steht kurz vor der Rente. Er ist ein Handwerker alter Schule, der die zunehmende Pfuscherei in der Branche nicht mehr erträgt. Valero hat zu allem etwas zu sagen, und das besonders gerne während der Arbeit.

Working Class Hero mit Bohrmaschine

Beide Männer arbeiten schon ewig zusammen. In der folgenden Arbeitswoche stößt Mohamed (Mohamed Mellali) zu ihnen. Der Marokkaner spricht Spanisch, lernt Katalanisch und sucht einen festen Job. Die Firmenchefin räumt ihm eine Woche Probezeit ein, doch Valero ist vom ersten Moment an gegen ihn. Er sei kein Rassist, aber ihre Stammkundschaft möge keine Ausländer, erklärt er Pep. Dabei kommt der junge Marokkaner bei den Kunden gut an, aber das macht Valero auch nicht zufriedener. Schon der erste Kunde, ein alter Katalane, erklärt Mohamed ausführlich seinen Ernährungsplan, mit dem er fast hundert Jahre alt geworden sei. Am nächsten Tag lichtet eine Fotografin Mohamed als „Working Class Hero“ ab, mit nacktem Oberkörper und einer großen Bohrmaschine in der Hand, während Valero mit verdrossenem Gesicht vergeblich eine Klimaanlage zu reparieren versucht.

Aus solchen Momenten entwickelt „Sechs Tage unter Strom“ einen eigenwillig-trockenen Humor, indem er Vertrautes mit Absurdem mischt und darin auch die Protagonisten einbindet, die nichts anderes darstellen als sich selbst. Zugleich aber wandeln und entwickeln sie sich: Pep nimmt langsam Abschied von einer Arbeit, die bislang sein ganzes Leben bestimmt hat, Mohamed leidet unter der Ignoranz seiner arabischen Mitbewohner, die ihn wegen seines Lerneifers als „schwarzen Katalanen“ bezeichnen, und Valero verliert ständig den Kampf gegen sein Übergewicht, wenn er abends in der Kneipe mit bekümmertem Gesicht Bier zum gebratenen Bauchspeck trinkt.

Sechs Tage einer Woche

Die Handlung ist nach den sechs Wochentagen strukturiert. Jeden Morgen fährt das Team mit dem alten Kleintransporter los und erlebt während ihrer Touren die tollsten Abenteuer. In der Altbauwohnung einer katalanischen Familie schalten die Kinder den Strom ein, während die Männer gerade defekte Steckdosen reparieren; später werden sie für Stunden auf dem Balkon ausgesperrt. Im luxuriösen Haus eines Psychotherapeuten kommen sie in den Genuss einer kostenlosen Gesprächstherapie, die in wüstem Geschrei endet, und in einem Baumarkt beweist Pep sein Faible für handwerkliche Qualität, als er auf eine Modellwand mit nachlässig verlegten Fliesen einschlägt und sich dabei den Arm verstaucht.

„Sechs Tage unter Strom - Unterwegs in Barcelona“ skizziert als Road Movie der kleinen Wege ein ungewöhnliches Porträt der katalanischen Metropole, mit ihren vielen sozialen Facetten und ihrer linguistischen Vielfalt, in der Katalanisch, Spanisch und Arabisch fließend ineinander übergehen. Der beiläufig-hintergründige Humor erinnert an die Werke von Jacques Tati und funktioniert über die Montage unerwarteter Situationen und spontaner Improvisationen.

Situationskomik entsteht aus Verfremdungen

Regisseurin Neus Ballús hat ohne Drehbuch gefilmt und ist mit 70 Stunden Material in den Schneideraum gegangen. Die Situationskomik entsteht dabei vor allem über Verfremdungen, denn die drei Protagonisten gelangen immer wieder in soziale Milieus, in denen sie deplatziert wirken, wenngleich sie dringend benötigt werden. Die Filmemacherin ist mit solchen Situationen vertraut, da der Lebensgefährte ihrer Mutter Klempner war; seine Erzählungen sind in „Sechs Tage unter Strom“ miteingeflossen. Nach „Die Plage“ (2013) und „Staff only“ (2019) inszenierte Ballús „Sechs Tage unter Strom - Unterwegs in Barcelona“ wieder mit Laienschauspielern. Wie Carla Simón hat auch Ballús das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung vom Dokumentarfilm auf den Spielfilm übertragen; ihre Geschichten überschreiten vorzugsweise die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Das ist eine neue Bewegung im spanischen Film, der überwiegend von Genrekino und konventionell zugespitzten Dramen beherrscht wird. Bei Neus Ballús, Carla Simón und anderen stehen hingegen die Protagonisten über dem Genre und sind weniger eindimensional angelegt als im klassischen Filmdrama. Auch die Kontraste und Konflikte zwischen den Protagonisten sind entschleunigt; selbst die gesellschaftlichen Spannungen, etwa Fremdenfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit und die Schere zwischen Arm und Reich, sind weniger polarisiert oder medial aufgepeitscht, sondern Teil einer alltäglicheren, menschlicheren Wirklichkeit.

Erschienen auf filmdienst.deSechs Tage Unter Strom - Unterwegs in BarcelonaVon: Wolfgang Hamdorf (23.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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