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Spielen oder nicht Spielen

80 min | Dokumentarfilm
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SPIELEN ODER NICHT SPIELEN handelt nicht nur von zwei talentierten und entschlossenen Schauspielerinnen mit Behinderung. Die Entschlossenheit, Energie und der Mut von Lucy und Yulia strahlen auf die Bühne und die Leinwand aus und haben Auswirkungen auf viele Ebenen der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Ihr erfolgreicher Einstieg ins professionelle deutsche Theater ist ein tiefgreifendes Statement gegen die akzeptierten Normen einer Welt, in der Mode, Profit und Sexismus die Ästhetik des weiblichen Körpers diktieren.
  • RegieKim Münster, Sebastian Bergfeldt
  • ProduktionDeutschland
  • Dauer80 Minuten
  • GenreDokumentarfilm

Filmkritik

In Deutschland leben derzeit etwa 13 Millionen Menschen mit einer Behinderung – das entspricht 16 Prozent der Gesamtbevölkerung. Von den ca. 5000 Schauspielern und Schauspielerinnen, die fest in deutschen Stadt- oder Staatstheatern engagiert sind, haben allerdings nur fünfzehn eine Behinderung. Das entspricht einem Prozentsatz von 0,3 Prozent. Mit diesen Zahlen wartet der Abspann von Kim Münsters und Sebastian Bergfelds Dokumentarfilm „Spielen oder nicht spielen“ auf. Zuvor sind die Zuschauer 80 Minuten lang den beiden talentierten und mutigen Protagonistinnen des Films gefolgt: der Münchnerin Lucy Wilke und der Kölnerin Yulia Yáñez Schmidt. Beide haben eine körperliche Behinderung und es in das Ensemble eines Stadttheaters geschafft; doch bis dahin mussten sie etliche Hürden überwinden, die ihnen in dem vermeintlich so offenen Theatermilieu in den Weg gelegt wurden.

Schauspielwunsch gegen Theaterschul-Leitlinien

Alles fängt damit an, dass Theaterschulen, darunter eine so renommierte wie die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Leitlinien über die physische und psychische Unversehrtheit ihrer Kandidaten aufstellen. So wurde Yáñez Schmidt in eben dieser Institution suggeriert, dass sie den Strapazen der Ausbildung physisch doch gar nicht gewachsen wäre. Die junge Frau leidet seit ihrer frühesten Kindheit an dem Amnionbandsyndrom, infolgedessen sie Fehlbildungen an den Extremitäten hat. Seit ihr ein Unterschenkel amputiert wurde, trägt sie eine Prothese. Von dem Wunsch, Schauspielerin zu werden, hat sie sich jedoch nie abbringen lassen. Als schließlich das inklusive Schauspielstudio Wuppertal eine Ausbildung für Menschen mit Behinderungen ermöglicht, nutzt die junge Frau ihre Chance, spricht vor und wird genommen.

Ähnliche Mühsal auf dem Weg zu ihrer Berufung hat auch Lucy Wilke auf sich genommen. Die junge blonde Frau sitzt im Rollstuhl, denn sie leidet an der Muskelerkrankung SMA (Spinale Muskelatrophie). Trotz ihrer Behinderung hat sie ein bewegtes Leben als Wanderschauspielerin hinter sich, bevor sie ein Engagement an den Münchner Kammerspielen annimmt. Sie wuchs in einer kulturbegeisterten Familie auf und verlebte ihre Kindheit alternativ und glücklich in einem Wohnwagen. Ihre Eltern ermutigten sie stets, ihren Träumen zu folgen. Vielleicht ist die junge Frau auch deshalb so selbstbewusst und gelassen. So weigert sie sich etwa, sich über die Hunderte Meter von Extrawegen aufzuregen, die ihr als Rollstuhlfahrerin jeden Tag durch mangelnde Inklusion in München auferlegt werden.

Schwellen, Treppen, verschlossene Türen

Mit ihrem Freund und persönlichen Assistenten, der sie täglich begleitet, kann sie anfangs nicht einmal das Theater betreten, da Schwellen, Treppen oder verschlossene Türen ihr einen Zutritt unmöglich machen. Einstellungen von Theaterfoyers, von denen aus man immer ein paar Stufen in Gänge und Zuschauerbereiche hochgehen muss, sowie von Treppenhäusern oder auch Stuhlreihen im Theatersaal ziehen sich denn auch leitmotivisch durch den Film. Sie stehen sinnbildlich für Barrieren in Schauspielhäusern, die zum Teil vor einhundert Jahren erbaut wurden – für physisch Unversehrte, versteht sich. Doch selbst in Zeiten, wo Inklusion im Grundgesetz verankert ist, hat sich in puncto Barrierefreiheit noch viel zu wenig getan.

Die Barrieren in den Köpfen bestehen stattdessen bei Nichtbehinderten am Theater weiter. Die Gründe für die Stagnation schieben sich die Beteiligten gegenseitig in einem Teufelskreis an (Pseudo-)Argumenten zu. Die Häuser beklagen den Mangel an ausgebildeten Schauspielern mit Behinderungen, und Schauspielschulen behaupten, keine auszubilden, weil sie ohnehin keine Bühne annähme.

So pendelt der Film zwischen beiden jungen Schauspielerinnen hin und her, lässt sie von ihren Erfahrungen und aus ihrem Leben berichten und bebildert ihren Arbeitsalltag. Yulia probt Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“. Auch Premiereneindrücke liefert der Film. Bei Lucy, die nun auf einer für sie gebauten Holzrampe zur Probebühne gelangt, sind die Proben anstrengender. Ihr Körper erlaubt ihr nicht alle Bewegungen. Alles dauere bei ihr nun einmal länger, erklärt sie, auch der Weg zur Toilette.

Theaterexperten und historische Exkurse

Zwischendurch kommen Theaterleute und -experten zu Wort. Der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx erklärt den Mangel an Bewusstsein für Inklusion damit, dass Theater ein Spiegel der Gesellschaft sei. Der Theaterkritiker Georg Kasch erzählt, wie er bei der Beurteilung einer inklusiven Inszenierung versuche, immer nur ihre Qualität zu beurteilen, auch wenn er anfangs den Impuls habe, so eine Produktion automatisch positiv zu bewerten. In einer historischen Exkursion evoziert der Dokumentarfilm auch finstere Zeiten, in denen Menschen mit Behinderungen in Freakshows ausgestellt, verlacht und gedemütigt wurden. Zwar ist die heutige Gesellschaft weiter, doch Scheuklappen bestehen weiterhin.

Doch letztlich gehört der Film den beiden Protagonistinnen. Optimistisch und realistisch, aber niemals vorwurfsvoll oder klagend, gehen sie durch das Leben. Die Erfahrung lehrt sie dennoch, nicht zu viel von ihren Mitmenschen und ihrem Milieu zu erwarten. Auf Lob, das ihre Behinderung thematisiert, kann Yulia verzichten, genauso wie auf Angebote, die sie aufgrund, nicht trotz, ihrer Behinderung bekommt. Heute ist sie Mitglied des Ensembles am Düsseldorfer Schauspielhaus. Zwar bleibt in den darstellenden Künsten beim Thema Inklusion noch viel zu tun. Doch Yulia und Lucy zeigen, was möglich ist.

Erschienen auf filmdienst.deSpielen oder nicht SpielenVon: Kira Taszman (8.12.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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