Szene aus The Atrocity Exhibition
Filmplakat von The Atrocity Exhibition

The Atrocity Exhibition

105 min | Drama, Horror | FSK 18
Tickets
Szene 1 aus The Atrocity Exhibition
Szene 2 aus The Atrocity Exhibition
Szene 3 aus The Atrocity Exhibition
Szene 4 aus The Atrocity Exhibition
Szene 5 aus The Atrocity Exhibition
Szene 6 aus The Atrocity Exhibition
Szene 7 aus The Atrocity Exhibition
Ein Universitätsprofessor ist von der Geschichte der gewaltsamen Selbstzerstörung der Menschheit fasziniert.

Filmkritik

Ein pseudo-wissenschaftlicher Off-Kommentar kündigt den Film als grenzüberschreitendes Experiment und Dokument eines geistigen Zusammenbruchs an. Der Universitätsprofessor Dr. Talbert (Victor Slezak) entwickelt darin eine Obsession mit menschlichem Zerstörungswahn. Am liebsten möchte er den Dritten Weltkrieg auslösen; vielleicht soll das aber auch nur in seinem Kopf geschehen. Denn „The Atrocity Exhibition“ dreht sich als eine eigenwillige Mischung aus Essay-, Experimental- und Horrorfilm ganz um eine veränderte Wahrnehmung der Welt.

Wahnsinn, heißt es einmal, sei nur ein neuer, vielleicht sogar wahrhaftigerer Zugang zur Wirklichkeit. Der Protagonist des Films nimmt solch einen irren Blick ein, der die Dinge verzerrt, abstrahiert oder in ihr Gegenteil verkehrt. Verschwörungstheorien werden zu Realität, Katastrophen zu Kunst, Abstoßendes zu Anziehendem.

Eine Ausstellung von Gräueltaten

Die einzige Regiearbeit von Jonathan Weiss ist der Versuch, ein vermeintlich unverfilmbares literarisches Werk auf die Leinwand zu bringen. Der für seine experimentelle Science-Fiction-Literatur bekannte Brite J.G. Ballard hat 1970 „Liebe & Napalm: Export USA“ (der Originaltitel bedeutet so viel wie „Die Ausstellung von Gräueltaten“) veröffentlicht. Bei dem Buch handelt es sich, je nach Interpretation, um gesammelte Kurzgeschichten mit inhaltlichen Überschneidungen oder um einen einzigen, aber zerstückelten Roman. Irritierend ist die oft unzusammenhängende Handlung und die Tatsache, dass der Protagonist mehrmals seinen Namen ändert.

Talberts Experiment besteht zunächst darin, reale Massaker auf einem Rollfeld nachzustellen. So wie der Wissenschaftler zuvor bereits Fotos mit Formeln und Diagrammen vollkritzelte, sind es nun menschliche Tragödien wie der Vietnamkrieg, die zu einer rein geometrischen Anordnung werden. Als Talbert später eine Femme fatale mit schwarzer Pagenperücke und leuchtend rotem Lippenstift (Anna Juvander) in einem Hotelzimmer trifft, fotografiert er ihren unbewegten nackten Körper nur in Details. Der Vorgang erinnert an eine Obduktion.

Wild durcheinandergewirbelt

Den inkohärenten Ansatz des Buchs übernimmt „The Atrocity Exhibition“ auch auf formaler Ebene. Low-Budget-Spielszenen, die in Laboren, vor endlosen Korridoren oder brutalistischer Architektur inszeniert sind, werden wild mit Archivmaterial durcheinandergewirbelt. Unter anderem kommen dabei Aufnahmen von Atombombentests, Operationen, deformierten Kriegsopfern, Politikern wie John F. Kennedy und Ronald Reagan oder von der glamourös posierenden Marilyn Monroe vor. Scheinbar Unvereinbares vermengt der Film zu einem einzigen Bewusstseinsstrom. Dabei entsteht das Bild einer auf Verführung und Konsum ausgerichteten Kultur, hinter deren glänzender Fassade ein unstillbarer Vernichtungsdrang brodelt.

Immer wieder breitet Talbert detailliert seine von Entfremdung und Perversion bestimmte Ideologie aus. In einem der Kapitel, das sich Crashtests, der Lust an der Maschine und der Zerstörung als fruchtbarem Moment widmet, stecken viele Gedanken aus Ballards Roman „Crash“, der 1996 von David Cronenberg verfilmt wurde. Solche theorielastigen Passagen, die sich um Sex, Gewalt und Tod drehen, wirken dabei stets behutsam portioniert. Nach kurzen Handlungsfetzen verliert sich „The Atrocity Exhibition“ wieder in seinem grobkörnigen, mal rätselhaften, mal abstoßenden Bilderrausch.

Entscheidend an der psychedelisch soghaften Wirkung des Films beteiligt ist auch der Soundtrack von J.G. Thirlwell, der von maschinenartigem Scheppern und beklemmendem Röhren bis zu entrückten Synthesizer-Klangflächen reicht. Treffend wirkt die Wahl der Musik auch, weil Thirlwell aus der No-Wave- und Industrial-Szene stammt, wo mitunter auf ähnliche Weise das Abartige zum Erhabenen stilisiert und die Bestialität des Menschen in den Mittelpunkt gerückt wird.

Auf der Suche nach der verborgenen Logik

J.G. Ballard meinte einmal, er hätte das Buch geschrieben, um sich den ungerechten Tod seiner Frau, die Brutalität in den späten 1960er-Jahren und die Ermordung John F. Kennedys zu erklären. Vielleicht würde ja hinter all dem eine verborgene Logik stecken. Jonathan Weiss bleibt dieser Suche mit seinem Film treu. „The Atrocity Exhibition“ taucht in die Gedankenwelt seiner Hauptfigur wie in eine dystopische Verschwörungstheorie ein. Statt durch eine moralische Positionierung Distanz zu gewähren, setzt er auf Überforderung und Verstörung.

Erschienen auf filmdienst.deThe Atrocity ExhibitionVon: Michael Kienzl (4.12.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
Über Filmdienst.de Filmdienst.de, seit 1947 aktiv, bietet Filmkritiken, Hintergrundartikel und ein Filmlexikon zu neuen Kinofilmen aber auch Heimkino und Filmkultur. Ursprünglich eine Zeitschrift, ist es seit 2018 digital und wird von der Katholischen Filmkommission für Deutschland betrieben. filmdienst.de