Szene aus The Dust of Modern Life
Filmplakat von The Dust of Modern Life

The Dust of Modern Life

81 min | Dokumentarfilm

Filmkritik

In den alten Liedern ist das Wissen noch intakt, die Natur unberührt. „Die Wildkatze wird dir in die Nase beißen“, singt Liêm, um sein weinendes Baby zu beruhigen. Während er in einer einfachen Hütte das Essen zubereitet, beschallen Lautsprecher das Dorf mit den Nachrichten aus der globalen Welt: die Brexit-Verhandlungen, Spülmittelwerbung und die vermeintliche Sichtung eines Ufos, aber auch Aufforderungen zu gymnastischen Übungen reihen sich in den Informationsfluss.

Das Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne ist in dem in der vietnamesischen Provinz Kon Tum gelegenen Dorf, in dem Liêm mit seiner Frau und den drei Kindern lebt, ständig präsent. Auch in dem Film „The Dust of Modern Life“ von Franziska von Stenglin steht es im Zentrum.

Liêm gehört der ethnischen Minderheit der Sedang an; seine Familie führt eine bescheidene Existenz und ernährt sich durch einfache Feldarbeit. Das Ritual eines mehrtägigen Trips in den Dschungel nach den Vorgaben archaischer Lebensweisen ist für die männlichen Sedang noch immer eine jährlich angewandte Praxis. Es geht um spirituelle Reinigung, um das Abstreifen des „Staubs“, den das moderne Leben bedeutet.

Die Tradition gerät in Bedrängnis

Immer stärker gerät diese Tradition durch Umweltfaktoren und die sich verändernde Lebensweise jedoch in Bedrängnis. Liêms Frau macht sich Gedanken, ob ihr Mann im Dschungel überhaupt noch genug Nahrung findet; Affen, Wildkatzen und Hirsche gibt es schon lange nicht mehr, es bleiben nur noch Buschratten und Frösche. Gemeinsam überlegen sie, ob der älteste Sohn schon bereit ist, mitzukommen. Liêm ist skeptisch; er selbst wusste in Quangs Alter alles über das Fallenstellen; der Dschungel war ihm vertraut. Der Junge nickt zwar artig, als er gefragt wird, ob er mitwill, seine spürbare Unsicherheit aber nimmt die Entscheidung vorweg.

„The Dust of Modern Life“ begleitet Liêm vor, während und nach dem Trip. Der erste Teil des Films ist weitgehend im „klassischen“ Modus des beobachtenden Dokumentarfilms gehalten: Einblicke in das Arbeits- und Familienleben, in die dörfliche Struktur. Das Gedenken an Hồ Chí Minh wird hier noch immer hochgehalten. Bei einer Versammlung werden die Bewohner gebeten, sich an ihm ein Vorbild zu nehmen und vietnamesische Produkte zu kaufen. Die wiederkehrenden Lautsprecherdurchsagen, die sich wie ein Refrain durch den Film ziehen, kündigen derweil vom Shopping-Fieber, das die Ankunft westlicher Marken wie Zara und H&M ausgelöst hat.

Die Bilder gewinnen ein Eigenleben

Der Rückzug in den Dschungel, den Liêm schließlich mit drei Freunden unternimmt, setzt einen anderen Film in Gang: „The Dust of Modern Life“ wird zum immersiven Trip. Dass die Filmemacherin Franziska von Stenglin einen Kunst-Hintergrund hat und nicht vom Dokumentarfilm kommt (sie ist Absolventin der Frankfurter Städelschule) wird in den erzählerischen Freiheiten und im Materialbegriff spürbar. „The Dust of Modern Life“ ist auf 16mm gedreht. Die analogen Bilder vibrieren und gewinnen ein Eigenleben; das Sonnenlicht und der Schein der Stirnlampen sind weitere „Materialien“ im Erzeugen einer transzendenten Atmosphäre.

Auch wird der Dschungel zum Klangraum vielstimmiger Geräusche und Stimmen unterschiedlichen Lebens. Faszinierend und mysteriös bleiben die Fallen, in denen sich die später über dem Feuer gegrillten Ratten verfangen: filigrane Konstruktionen aus Hölzern, zu zeltartigen Gebilden gesteckt und gebunden, die wie Totems anmuten. Mitunter scheinen die traumgleichen Bilder von Apichatpong Weerasethakul als Vorbild durch.

Während die Männer Objekte der Beobachtung sind, spekulieren sie ihrerseits über die Filmemacherin und ihre Lebensweise – etwa als unverheiratete Frau ohne Kinder. Diese vermeintliche Perspektivverschiebung ändert aber nichts an der Natur der Blickverhältnisse und wirkt eher ein wenig willkürlich (ähnliche Gespräche wird man vermutlich im Rohmaterial vieler Dokumentarfilme finden). Manchmal auch hat man den Eindruck, dass sich der Film seiner Mechanismen einer „exotischen Ethnografie“ nicht ganz bewusst ist.

Kein Rückzug ohne Mobiltelefon

Der Rückzug in den Dschungel, das zeigt „The Dust of Modern Life“ auf beiläufige Weise, geht heute nicht mehr ohne die Beweiskraft der Mobiltelefone vonstatten. Irgendwann wird man von dieser Existenzweise nur noch durch Bilder wissen, die davon übriggeblieben sind.

Erschienen auf filmdienst.deThe Dust of Modern LifeVon: Esther Buss (16.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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