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Filmplakat von UND RUHIG FLIEßT DER RHEIN

UND RUHIG FLIEßT DER RHEIN

104 min | Dokumentarfilm

Filmkritik

Caroline ist keine Person, die aus ihrem Herzen eine Mördergrube macht. Sie ist warmherzig, lebhaft, extrovertiert und hat einen breiten Freundeskreis. Seit einigen Jahren lebt die aus dem Rheinland stammende Frau nun in Leipzig. Früher hieß sie Reiner und sagt von ihrer alten Identität, dass es ohne Reiner keine Caroline gäbe und umgekehrt. Doch nun liegt die Mittfünfzigerin kurz vor ihrer geschlechtsangleichenden Operation im Krankenhausbett und ist euphorisch: „Einmal einschlafen, und dann ist alles vorbei.“ So kommt es dann auch. Der Eingriff ist erfolgreich; sie hat es geschafft. Mit einem befreundeten Ehepaar feiert sie ihren neuen Lebensabschnitt, doch dann ereilt sie eine folgenschwere Nachricht. Ihr Vater liegt im Sterben, und das lässt sie nachts nicht schlafen. Nicht, weil sie um ihren Vater trauert, sondern weil er dafür verantwortlich ist, dass sie als Kind schwerstem Missbrauch ausgesetzt war.

Denn die Traumata ihrer Kindheit hat die sonst durchaus mitteilsame Frau stets verdrängt. Nun holen sie Caroline mit einer solchen Wucht ein, dass sie sich professionelle Hilfe von einem Therapeuten holen muss. Ihre Kindheit ist wie ein unbeschriebenes Blatt: Positive Erinnerungen daran hat sie keine. Denn es ist kaum vorstellbar, und für die Zuschauer auch nur sehr schwer zu ertragen, welchen Qualen sie als Kind ausgesetzt war. Im letzten Drittel des Films erfahren wir einiges über die Vorgänge, doch glücklicherweise nicht alle Details, und ahnen, welche Hürden Caroline überwinden musste, um zu der zu werden, die sie heute ist. Doch um die Vergangenheit ruhen zu lassen, muss Caroline zunächst versuchen, sie aufzuarbeiten. Wie darunter ihre Gesundheit, aber zum Teil auch ihre Freundschaften leiden, lässt der Film hautnah erleben.

Bootsfahrt mit Leitmotiv-Charakter

Der Dokumentarfilm von Volker Klotzsch und Oliver Matthes geht einigermaßen chronologisch vor, unterbricht die Zeitfolge aber immer wieder mit Sequenzen einer Bootsfahrt auf dem Rhein, die einen leitmotivischen Charakter hat. Sie steht einerseits für Carolines Herkunft, schafft jedoch durch diverse Kameraeinstellungen – darunter auch panoramische – eine Distanz zu der Protagonistin, welcher der Film ansonsten sehr dicht folgt. Vor allem aber steht die Fahrt auf dem Strom sinnbildlich für Carolines Reise zu ihrem wahren Ich. Denn Caroline musste in Kindheits- und jungen Erwachsenentagen ein doppeltes Kreuz tragen: den Missbrauch durch Bekannte ihres Vaters sowie die Verheimlichung ihrer geschlechtlichen Identität, die sie sich als junger Mensch nicht erklären konnte. So spricht sie von Reiner immer in der dritten Person und erzählt wiederholt Freunden, wie diverse Bekannte sie als Reiner in Frauenkleidern „erwischt“ hätten.

Ihr Coming-Out als Transfrau wagte sie lange nicht, heiratete stattdessen als Reiner eine Frau. Aus der Ehe ging ein Sohn hervor. Zu ihm und der Ex-Gattin pflegt Caroline einen guten Kontakt. Doch ob ihre eigene Mutter noch lebt, weiß sie nicht. Als Erwachsene kappte sie alle Bande an die Familie und impliziten Komplizen desjenigen, den sie heute nur noch ihren „Erzeuger“ nennt. Dieser verkaufte sein Kind nicht nur an Pädophile, sondern schlug es auch oder ließ sich von ihm in volltrunkenem Zustand aus der Kneipe holen. Als junger Mensch betäubte sich Caroline mit Drogen und Alkohol, um ihr von Wut, Aggression und Angst bestimmtes Leben überhaupt zu ertragen.

Gedanken, Erlebnisse und Erinnerungen geteilt

Ihre Gedanken, Erlebnisse und Erinnerungen teilt sie mit dem Publikum. Teils in Form von Selfie-Videos, meist jedoch in Gesprächen mit Freunden, auf der Arbeit, und schließlich mit ihrem Therapeuten. Zuweilen beschleicht einen ein mulmiges Gefühl des ungewollten Voyeurismus, und man fragt sich, ob die Gespräche mit dem Therapeuten, die eigentlich der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen, wirklich mit der Kamera gefilmt werden mussten.

Dennoch geben sich die Filmemacher Mühe, diese Sequenzen durch anderes Bildmaterial – von Straßen, vom Schiff auf dem Rhein – zu ergänzen, sodass man manchmal nur die Stimmen von Therapeut und Patientin hört. Auch bei anderen Verrichtungen, etwa bei ihrer Arbeit als Serviererin im Restaurant, hört man Carolines Stimme im Off. Am Ende erfährt man erleichtert vom Tod von Carolines Erzeuger, dessen Identität weder durch Namen noch Bilder aufgedeckt wird. Caroline scheint auf dem richtigen Weg zu sein, um die tiefen Wunden, die sie in ihrem Leben davongetragen hat, (zumindest teilweise) heilen zu lassen. Verdient hätte sie es.

Erschienen auf filmdienst.deUND RUHIG FLIEßT DER RHEINVon: Kira Taszman (28.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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