Szene aus Wet Sand
Filmplakat von Wet Sand

Wet Sand

115 min | Drama | FSK 12
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In einem Dorf am georgischen Schwarzen Meer leben freundliche Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie sich untereinander kennen. Eines Tages wird Eliko erhängt aufgefunden. Seine Enkelin Moe kommt, um seine Beerdigung zu organisieren. Sie wird mit einem Netz von Lügen und den tragischen Folgen von Elikos verborgenem Liebesleben konfrontiert.
  • RegieElene Naveriani
  • ProduktionSchweiz, Georgien
  • Dauer115 Minuten
  • GenreDrama
  • AltersfreigabeFSK 12
  • TMDb Rating7.7/10 (10) Stimmen

Filmkritik

Das Medusa-Mosaik, das die einzige Bushaltestelle in dem winzigen, am Schwarzen Meer gelegenen Fischerdorf ziert, ist schon etwas abgeblättert; die Farben sind verblichen. So richtig gefährlich sieht die Gorgonin überdies nicht aus. Sie kommt vielmehr mit einer Friedenstaube daher, die sich in eines der Schlangenhaare hineingeschmuggelt hat.

Wenn sich Amnon und Moe unter dem Medusa-Bild zum ersten Mal begegnen, verweht die Symbolik fast, so leise ist der Moment. Die Enkelin von Eliko, einem Dorfbewohner, der in seiner Küche erhängt aufgefunden wurde, ist gerade aus Tiflis angekommen, Amnon, der sie an der Haltestelle erwartet, ist friedlich eingenickt. Scheinbar fixe Bedeutungen von Zeichen und festgefahrene Konstellationen werden in „Wet Sand“ immer wieder verschoben: in Räume des Dazwischen, der Ambivalenz, des Non-Binären.

Räume des Non-Binären

Amnon betreibt ein Café direkt am Strand, das „Wet Sand“. Bei Nacht sieht es, vom Neonschriftzug spärlich beleuchtet, zumindest aus der Ferne recht atmosphärisch und berückend schön aus, fast wie ein Bühnenbild. Der Eindruck bei Tag ist hingegen eher ernüchternd. Die wenigen Männer des Dorfes kommen täglich zum Brettspiel, lästern und machen Witze über die „Pisse“, die es dort zu trinken gibt. Fleshka, eine junge alleinlebende Frau, die im Café bedient, muss sich ständig dumme Sprüche anhören. Wortkarg und schroff kippt sie dann auch schon mal ein Bier über einem Gast aus.

Die georgische Filmemacherin Elene Naverini stellt das dörfliche Milieu schon früh und überaus deutlich in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Auf der Mattscheibe des Fernsehers hinter dem Tresen läuft ein Bericht über den „Tag der Familie“. Patriarchen haben ihn 2014 ins Leben gerufen, um den „Internationalen Tag gegen Homophobie“ zu ersetzen. Geistliche fahren die Ikone der Gottesmutter Maria in Fahrzeugen durch die Stadt, segnen die Straßen von Tiflis und preisen familiäre christliche Werte.

Wenn einer ein „Feiner“ ist

Wie sehr die Dorfgemeinschaft von der patriarchalen Ordnung durchdrungen ist, von ihren Werten, ihren Ressentiments und ihrem Hass, zeigt sich, als es darum geht, Eliko zu beerdigen. Der Tote war ein Außenseiter, ein einsamer Mann, scheinbar schwer krebskrank, ein „Feiner“, wie es zweideutig heißt. Eine Frau meint, man solle ihn auf den Müll schmeißen oder an die Hunde verfüttern. Auch Moe, die den Verstorbenen kaum kannte, wirft man den Argwohn und die Abschätzigkeit wie einen Haufen Müll vor die Füße – „Wenn das Familie ist! Am Arsch!“. Gleichzeitig wird die Frau mit den gefärbten Haaren und dem Feuerzeug um dem Hals, die ein wenig aussieht wie die Heldin eines Actionfilms, wie ein bunter Hund bestaunt.

Im Zuge der Bestattung verschweißen Amnon, Fleshka und Moe immer mehr zu einer „Außenseiterbande“; einzig der Fischer Spero gesellt sich zu ihnen, der auch einen Verlust zu beklagen hat. Bald erfährt Moe von der verborgenen Beziehung ihres Großvaters mit Amnon. Zum ersten Mal kann der frei über ihre gemeinsame Geschichte sprechen, wie sie sich vor zwanzig Jahren in einer Hafenkneipe das erste Mal begegnet sind, wie sie sich wiedertrafen und liebten.

Bewegung in den Gesichtern

In langen, statischen Einstellungen und einem eher stockenden Erzählrhythmus entfaltet sich das Porträt einer in Traditionen erstarrten Gemeinschaft. Elene Naverini, die in der Schweiz lebt und dort ausgebildet wurde, setzt die Dorfbewohner immer wieder in fast arrangierten Anordnungen ins Bild. Der Blick auf Amnon, Fleshka und Moe ist dagegen intim. Die Kamera sucht und findet die Bewegung vor allem in den Gesichtern; Gia Agumawa, der Amnon seine charismatischen Gesichtszüge leiht und sein reduziertes Körperspiel mit einer eigentümlich zärtlichen Ausstrahlung verbindet, wurde beim Filmfestival in Locarno für sein eindrückliches Spiel mit einem Preis geehrt.

Trotz der klassischen Bildsprache versteht sich „Wet Sand“ als explizit aktivistischer Film. Moes „Just Feel“-Tattoo auf dem Hals und Fleshkas Jacke – auf dem Rücken steht „Follow Your Fucking Dream“ – sind sprechende Botschaften. Im Fernsehen laufen ständig Reportagen über die Auswirkungen der Klimakatastrophe. Und je mehr die Homophobie der Dorfbewohner in roher Gewalt ihren Ausdruck findet, desto stärker formieren sich die Reaktionen zu demonstrativen Gesten des Widerstands.

Ein hellerer Ort

Trotz der gleichermaßen kämpferischen wie versöhnlichen Botschaft ist „Wet Sand“ aber weit mehr als ein Themenfilm. Denn Naverini interessiert sich gleichermaßen für das Zusammenspiel von Menschen, Landschaft und Räumen, für subtile Gesten und Blickdynamiken – und für Musik. Der Soundtrack versammelt neben Folk Gothic und Blues auch traditionelle georgische Gesänge.

Unvorhersehbar und fast ein wenig verholpert entspinnt sich zwischen Moe und der schüchtern-ungelenken Fleshka eine Liebesbeziehung. Sie erwächst aus Freundschaft und solidarischem Miteinander – und setzt damit den verkrusteten Familienstrukturen ein anderes Modell von Zusammenleben entgegen. Das Bestehende gerät in Bewegung und formiert sich neu; sogar das „Wet Sand“ wandert an einen anderen Ort. Es ist heller dort.

Erschienen auf filmdienst.deWet SandVon: Esther Buss (24.1.2023)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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