Szene aus Orlando, meine politische Biografie
Filmplakat von Orlando, meine politische Biografie

Orlando, meine politische Biografie

98 min | Dokumentarfilm | FSK 12
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In „Orlando“ (1928) erzählt Virginia Woolf die Geschichte eines jungen Mannes, der am Ende eine Frau ist. Knapp 100 Jahren nach dem Erscheinen des Romans, der heute als queerer Schlüsseltext gilt, schreibt Philosoph und trans Aktivist Paul B. Preciado einen filmischen Brief an Woolf und ruft ihr zu: Deine Figur ist wahr geworden, die Welt ist heute voller Orlandos! In seinem Film zeichnet er seine eigene Verwandlung nach und lässt 25 andere trans und nicht-binäre Menschen im Alter zwischen 8 und 70 Jahren zu Wort kommen. Sie alle schlüpfen in die Rolle Orlandos.

Filmkritik

In „Orlando“, dem als Biografie getarnten Roman von Virginia Woolf, wird der durch die Jahrhunderte reisende junge Adlige Orlando im Schlaf zur Frau. Für den Transgender-Aktivisten, Philosophen und Kurator Paul B. Preciado stellt Woolfs Entwurf eine poetische, geradezu metaphysische Version einer Transition dar. Die Pathologisierung von trans*Personen, die einige Jahre vor der Entstehung von „Orlando“ durch die Machtinstrumente von Medizin und Medien ihren Anfang nahm und in der Gesetzgebung bis heute juristisch verankert ist, weicht in dem Buch einer gleichsam spielerischen wie sanften Metamorphose, frei von Herrschaft und Gewalt.

Als Preciado „Orlando“ zum ersten Mal las, war er ein Teenager und wusste noch nichts von den Möglichkeiten einer Transition. Woolfs fiktionale Figur erlaubte es ihm jedoch, seine eigene Identität als wandelbar zu imaginieren. Das Buch blieb bis heute ein ständiger Begleiter; auch in seinem aktuellen Buch „Ein Apartment auf dem Uranus“ findet sich ein Text dazu: „Orlando on the Road“. Viele Jahre nach der Begegnung mit „Orlando“ wurde die Metamorphose Wirklichkeit, freilich nicht im Schlaf. Der Queer-Theoretiker hat diesen Prozess eindrucksvoll in dem Buch „Testo Junkie beschrieben, eine Mischung aus soziologischer Analyse und politischer Kritik mit Erfahrungsberichten über die Einnahme von Testosteron und anderen körpermodifizierenden Praktiken.

Auf dem Weg zur „Orlandisation“

Nachdem Preciado mehrfach gefragt wurde, eine Biografie zu schreiben oder einen Film über sich selbst zu machen (die Initiative ging von dem Sender arte aus), begriff er, dass er eigentlich gar keine Biografie schreiben musste, das die bereits existiert. Er, Preciado, ist ein Orlando. Neben Tausenden unsichtbaren Orlandos kann er sich als Teil einer kollektiven Geschichte nicht-binärer Körper begreifen, als Element einer „orlandisation“.

Wie die trans*Identität selbst ist auch „Orlando, ma biographie politique“ vieles gleichzeitig: politisches Manifest, individuelle und kollektive Biografie und Re-Lektüre von Virginia Woolfs inzwischen fast hundertjährigem Roman. Die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation sind dabei so fluide wie die Identitäten; die Form ist durch und durch non-binär. Preciado selbst ist in seinem erstaunlichen Regiedebut vor allem als Stimme aus dem Off präsent. In Briefform richtet er das Wort an Woolf und verwebt ihre literarische Fiktion wie auch ihre eigene Biografie als pathologisierte (lesbische) Autorin mit der gesellschaftlichen, aber auch poetischen Wirklichkeit non-binärer Körper.

Im Film treten 27 Orlandos im Alter von 8 bis 70 Jahren auf. Sie sitzen (und schlafen) im Grünen, sprechen in einer Studiokulisse in die Kamera oder agieren in kurzen Spielszenen; als verbindendes Accessoire und historische Markierung reichen eine spanische Halskrause sowie Posen aus der Porträtmalerei. Eigene Erfahrungen, von den ersten Gefühlen im falschen Körper zu sein, über den Gang durch Arztpraxen und Psychiatrien und grotesken Ratschlägen bis hin zur ersten, befreienden Hormoneinnahme oder Operation, gehen fließend in Woolfs Text über. Preciado hat ihn in die Erste Person übertragen. Als eigene wie kollektive Stimme zirkuliert er durch eine Vielzahl an Körpern.

Eine andere Perspektive

„Orlando, ma biographie politique“ stellt den verbreiteten Darstellungen, die trans*Personen objektifizieren und exotisieren, eine andere Erzählung und andere – sensuelle – Bilder gegenüber. Der Blick gilt vor allem den vielfältigen Gesichtern der Orlandos, die in der sorgsam ausgeleuchteten Studiokulisse allesamt strahlend schön sind. Die erfahrenen Demütigungen werden nicht ausgelassen; die Besuche beim Psychiater, die Abweisung bei der Registrierung im Hotel, doch Preciados Inszenierung transformiert den Schmerz mit viel Witz und Flamboyanz zu einer ermöglichenden und ermächtigenden Kraft.

Eine Szene im Wartezimmer einer Arztpraxis entwickelt sich zum entfesselten Musikvideo; dabei tanzen und singen die versammelten Orlandos gegen Freud und Lacan an und feiern die „Pharmacoliberation“. Und der Besuch eines Waffengeschäfts gerät zur pointierten Kritik an vermeintlichen Attributen der Maskulinität.

Planetarisch, non-binär

„Orlando, ma biographie politique“ ist voll spielerischer performativer Ideen und kluger inszenatorischer Einfälle, theoretisch präzise und dabei völlig unakademisch. Einmal liegt Woolfs Buch auf dem OP-Tisch und wird anstelle der trans*Körper mit dem Skalpell seziert; ein Satz aus „Orlando“ wird gleichsam wie ein bösartiges Geschwür entfernt: „Gewalt war überall“. Neben dem schwulen Künstlerpaar Pierre und Gilles hat die Autorin Virginie Despentes einen Auftritt; als Richterin händigt sie den Orlandos ihre neuen Ausweispapiere aus. Staatsbürgerschaft: planetarisch, non-binär.

Erschienen auf filmdienst.deOrlando, meine politische BiografieVon: Esther Buss (29.1.2024)
Vorsicht Spoiler-Alarm!Diese Filmkritik könnte Hinweise auf wichtige Handlungselemente enthalten.
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